sowie der Sprachsoziologie konzeptualisiert werden.
In einer soziolinguistischen Perspektive ist beispielsweise relevant, dass sprachliche Normen als Teil übergreifender sozialer Normen Konsens einer bestimmten Sprachgemeinschaft sind (Jaspers 2012). Für die Person, und damit auch sämtliche Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in der gesamten Lebensspanne, bedeutet dies, dass für die gesellschaftliche Partizipation eine sprachliche Normentsprechung Voraussetzung ist (Abb. 11).
Marginalisierung sprachlicher Defizite
In einem solchen normativen System können Personen, die aufgrund ihrer sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen abweichende, nonkonforme sprachliche Äußerungen oder kommunikative Akte produzieren, wegen ihrer sprachlichen „Defizite" marginalisiert (Abb. 11), d.h. an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Im gesellschaftlich geprägten Bildungs- und Gesundheitssystem kann dies im Rahmen sprachdiagnostischer Prozesse geschehen. Die Klassifizierung bzw. Etikettierung von identifizierten Sprachentwicklungsverzögerungen hat beispielsweise für Schülerinnen und Schüler personale Relevanz, da sie ein präskriptives Normenverständnis impliziert. Die durch Spracherwerbstests festgestellte sprachliche Standardabweichung wird somit als Defizit, als Makel bzw. als schlecht attribuiert. Es kann damit zu einem Attribut werden, das seinem Träger als subjekt-inhärentes Merkmal zugeschrieben wird und sein Person-Sein wie seine Sprachlichkeit defizitär definiert: „der Sprachbehinderte“, „der Stotterer“, „die Schülerin mit Förderbedarf“ (Kap. 1).
Anerkennung sprachlicher Differenz und Einzigartigkeit
Aus pädagogischer Perspektive ist immer zu bedenken, dass die Einführung von vermeintlich objektiven Wertmaßstäben wie der gesellschaftlichen Sprachnorm immer Auswirkungen auf die ganze Person und ihre Sprachlichkeit hat, welche die subjektive Verkörperung des analysierten linguistischen Sachverhaltes, beispielsweise einer Aussprachestörung, ist. Um personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses zu vermeiden, ist eine erste pädagogische Prämisse, Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation nicht über die Identifikation sprachlich-kommunikativer Defizite – und dazu gehört beispielsweise ein sprachlicher Förder- und Unterstützungsbedarf von Schülerinnen und Schülern – zu stigmatisieren und zu marginalisieren. Vielmehr ist dafür Sorge zu tragen, ihre Einzigartigkeit als sprachliche Differenz anzuerkennen. Damit können sich sprachpädagogische und sprachtherapeutische Fachkräfte auch des utilitaristischen Grundgedankens der sozialen Verwertbarkeit von Sprache entledigen, der letztlich eine Missachtung der Person und ihrer Sprachlichkeit per se darstellt. Diese paradigmatische Wendung vom Defizit- zum Differenzbegriff (Kap. 1) ist Voraussetzung für die wahre Inklusion sprachlicher Heterogenität von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf (Kap. 8). (Abb. 11).
Am Fallbeispiel 4 Claudia (Kap. 1) wird nachfolgend die Inklusion sprachlicher Heterogenität durch institutionelle Anerkennung sprachlicher Differenz verdeutlicht
Im Gymnasium steht Claudia nicht abseits, im Gegenteil, sie steht manchmal sogar im Mittelpunkt des Geschehens. Aufgrund des Sprachcomputers, den sie mit den Augen steuert, vermag sie ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen. Sicherlich bedeutet diese Form der Kommunikation eine hohe Akzeptanz vonseiten der Mitschüler und Mitschülerinnen. Das war nicht von Anfang an der Fall. Als Claudia den Computer noch nicht perfekt bedienen konnte und die Gesamtsituation für die Schule neu war, gab es deutliche Annäherungsschwierigkeiten. Nach außen hin versuchten zwar die meisten Schülerinnen und Schüler, offen auf Claudia zuzugehen, aber tatsächlich stand sie oft allein am Rand. Echte Freundschaften entwickelten sich erst viel später. Die von den Lehrerinnen und Lehrern vielfältig konkretisierte sprachpädagogische Prämisse der Inklusion sprachlicher Heterogenität brauchte die institutionelle und gesellschaftliche Anerkennung sprachlicher Differenz und viel Zeit.
Kultur: Ermöglichung von Bildungsteilhabe
Menschwerdung: Sprachbesitz als Schwelle zur Kultur
Letzter wichtiger Punkt für eine Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen ist, dass anthropologisch der Sprachbesitz als Schwelle zur Kultur angesehen wird. Kulturbesitz markiert damit die semiotische Schwelle zwischen der Welt der Zeichen und der Welt der Kultur auf der einen Seite, und der nicht-zeichenhaften, kulturlosen Welt beispielsweise der Tiere auf der anderen Seite. Der Besitz der Sprache ermöglicht deshalb nicht nur die kulturelle Teilhabe, sondern ist sogar Bedingung der Menschwerdung und des Mensch-Seins (Abb. 11).
verwehrte kulturelle Teilhabe bei beeinträchtigter Kommunikation
Eine derartige kulturelle Bestimmung der Relation Person – Sprache beinhaltet in ihrer Umkehrung, dass mangelnder oder vermeintlich mangelhafter Sprachbesitz nicht nur die kulturelle Teilhabe, sondern letztlich das Mensch-Sein in Frage stellt und Tendenzen der Dehumanisierung (Abb. 11) auslösen kann (Lüdtke 2012a). Natürlich gab es stets die wissenschaftliche Faszination, „wilden Kindern“ wie Kaspar Hauser oder Victor von Aveyron das Erlernen der Kulturgüter, insbesondere der Sprachkompetenz, durch heilpädagogische Methoden beizubringen (Itard 1801). Historisch betrachtet war und ist jedoch daneben die vorherrschende Reaktion auf eine beeinträchtigte Sprach- und Kommunikationsfähigkeit eine negative soziale Bewertung. „Abnorme“, der Norm nicht entsprechende Sprachkompetenz (langue) und Sprachverwendung (parole) gerade auch bei „Behinderten“ wurde und wird stets sanktioniert. Das Spektrum reicht(e) dabei von der tatsächlichen Tötung (Euthanasie / Holocaust) über das Aussetzen, Verbannen oder Wegsperren (Psychiatrie) bis hin zur subtileren Ausstoßung oder Ausgrenzung („Nicht-Bildbarkeit“) aus der Sphäre der Kultur, Zivilisation, Bildung, letztlich dem Mensch-Sein.
Offenheit für Vulnerabilität, sprachlicher Synkretismus
Da jegliche subtile oder offene Ausgrenzungs- oder Dehumanisierungsreaktion zu einer Verletzung der Sprachlichkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation führen kann, müssen personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses verhindert oder aufgefangen werden Oberste pädagogische Prämisse muss selbstverständlich die Ermöglichung von Bildungsteilhabe sein Dies kann sprachpädagogisch aber nur über eine Offenheit für sprachlichen Synkretismus, d.h. für sprachliche Brüche und Neuschöpfungen gelingen, und damit für die Vulnerabilität, für die grundsätzliche Verletzlichkeit jedweder Sprachlichkeit (Abb. 11).
Am Fallbeispiel 7 Rosa (Kap. 1) wird nachfolgend die Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe auch am Ende der Lebensspanne verdeutlicht.
Rosas Sohn bemüht sich um eine angemessene Kommunikation mit seiner Mutter. Er versucht sich so mit ihr zu unterhalten, wie er es noch vor einiger Zeit getan hatte. Doch es fällt ihm schwer, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Viel zu sehr ist er von dem sprachlich-kommunikativen Verhalten seiner Mutter irritiert. Er findet sie nicht mehr so vor, wie er sie von früher her kennt. Aufgrund der Wesensänderung von Rosa besteht die Gefahr, dass sie in ihrem Umfeld und besonders im Kontext der Pflegeroutine nicht mehr die Würde und Achtung als Mensch erfährt. Kommunikative und emotionale Ansprache droht auszubleiben. Die sprachpädagogische Prämisse der Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe muss aber nicht nur in der vorschulischen und schulischen Bildung, sondern gerade auch am Ende der Lebensspanne umgesetzt werden.