anderen auf seine Identitätsbildung, seine Peergroup-Zugehörigkeit und seine gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe sind mehr als nur zu erahnen Auch die Lehrerin braucht Unterstützung, den Lernprozess in dieser wie in anderen Situationen günstig zu beeinflussen. Die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft liefert hierzu Ansätze, die sich mit theoretischen und anwendungsbezogenen Aspekten von Bildung und Erziehung beschäftigen Lehren und Lernen unter besonderen Bedingungen, wie beispielsweise bei sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen, wurde dabei von jeher als „Pädagogik und nichts anderes“ (Moor 1974, 273) verstanden (Lüdtke / Bahr 2005).
Komplexität des Faches
Die interdisziplinäre Analyse des Fallbeispiels macht deutlich, dass Studierende und professionell tätige Personen des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation auf Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften der Semiotik, Soziologie, Philosophie, Linguistik, Medizin, Neurowissenschaften und Psychologie Bezug nehmen und diese pädagogisch geleitet integrieren müssen, um die vielen sprachpädagogischen und sprachtherapeutischen Aufgaben der Praxis lösen zu können. Diese spezifischen Aufgaben betreffen u.a. Diagnostik (Kap. 5), Prävention und Förderung (Kap. 7), Unterricht (Kap. 6 und 8), Therapie
(Kap. 6 und 9), Beratung (Kap. 8), Bildung und Erziehung (Kap. 2), Evaluation sowie Innovation (Kap. 3).
pädagogische Ganzheit
Die Notwendigkeit, viele einzelne Wissensmomente dabei nicht additiv nebeneinanderzustellen, sondern zu einer pädagogischen Ganzheit zu integrieren, gilt nicht nur für Bastian, sondern für alle Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in der gesamten Lebensspanne vom Säuglingsalter bis hin zum älteren Menschen (Abb. 8).
Literaturempfehlungen zu den Bezugswissenschaften
Ammon, U., Dittmar, N., Mattheier, K. J., Trudgill, P. (Hrsg.) (2005): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Aufl. de Gruyter, Berlin Fiori, A., Deuster, D., Zehnhoff-Dinnesen, A. G. am (2012): Hören und Sprechen. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 277-289 Jaspers, J. (2012): Norm und Differenz. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 49-59 Karnath, H.-O., Thier, P. (Hrsg.) (2012 ): Kognitive Neurowissenschaften. 3.
aktual. u. erw. Aufl. Springer, Berlin Kauschke, C., Huber, W., Domahs, F. (2012): Spracherwerb und Sprachverlust. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 246-276 Klann-Delius, G. (2008): Spracherwerb. 2. aktual. und erw. Aufl. Metzler, Stuttgart
Kristeva, J., Gardou, C. (2012): Behinderung und Vulnerabilität. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 39-48 Newen, A., Schrenk, M. (2008): Einführung in die Sprachphilosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Nöth, W. (2012): Zeichen und Semiose. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 161-176 Nöth, W. (2000): Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Metzler, Stuttgart Rupp, E. (2012): Sprache und Gehirn. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 230-245
Schindelmeiser, J. (2014): Anatomie und Physiologie für Sprachtherapeuten. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München
Trevarthen, C. (2012): Intersubjektivität und Kommunikation. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 82-157
2.2 Sprachphilosophische und anthropologische Grundlagen
2.2.1 Der Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie
ganzheitlicher Zugang
Zoomt man im unteren Teil der gerade erläuterten graphischen Darstellung unseres Faches als Integrationswissenschaft (Abb. 8). näher auf ihren Aufgaben- und Zielbereich (Abb. 9), so wird deutlich, dass – wie im vorher untersuchten Fallbeispiel in allen Aufgabenstellungen, die sich in unserem Fach ergeben – immer der Mensch in seiner Sprachlichkeit im Mittelpunkt steht (Lüdtke 2012a).
Abb. 9: Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie einer pädagogischen Verstehens- und Handlungsperspektive des Faches
Trias Sprachvermögen – Sprache – Sprechen
Die Frage, was Sprache eigentlich ist und was die menschliche Sprach- und Kommunikationsfähigkeit ausmacht, beschäftigt die Menschheit in allen Kulturen seit jeher (Kristeva 1989). In der europäischen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft setzten sich viele Wissenschaftler mit der Entschlüsselung dieses Phänomens auseinander und entwickelten die Vorstellung von einer Dreiteilung (Trias) aus Sprach- und Kommunikationsfähigkeit – Sprache – Sprechen (Abb. 9) (Lüdtke 2012a).
von Humboldt, de Saussure und Chomsky
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) unterscheidet bereits ergon (Sprache als Werk) und energeia (Sprache als Tätigkeit). Ferdinand de Saussure (1857-1913) differenziert zwischen der menschlichen Sprachfähigkeit (faculte de langage), der Sprache (langue) und dem Sprechen (parole). Der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky (geb. 1928) wiederum verwendet die Begriffe Kompetenz (allgemeine Sprachfähigkeit) und Performanz (individuelle Sprachverwendung). Unabhängig von diesen terminologischen Unterschieden ist an dieser Dreiteilung wichtig, dass die Mehrdimensionalität der Sprache wie folgt gefasst werden kann:
1 Sprachlichkeit: Die Komponente „Sprach- und Kommunikationsfähigkeit“ umfasst die personale Dimension der Sprachlichkeit, d.h. die besondere Art und Weise des Menschen als sprechendes Wesen.
2 Sprachsystem: Die Komponente „Sprache“ umfasst die Dimension des Sprachsystems, d.h. die „unsichtbare“ mentale Repräsentation von Sprache sowie ihre Planung und Verarbeitung.
3 Sprachhandlungsvorgang: Die Komponente „Sprechen“ umfasst die Dimension des konkret realisierten Sprachhandlungsvorgangs, d.h. die pragmatische beobachtbare Anwendung.
Diese Dreiteilung ist die Basis jeglicher Diagnostik und Intervention bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation, da durch diese Differenzierung ermittelt werden kann, welche Komponente(n) der Sprache einer Person aufgebaut und verfügbar und welche von Beeinträchtigungen betroffen sind Eine förderdiagnostische Betrachtung unseres Fallbeispiels 3 Bastian (Kap.