hinweisen.
1.3.1 Oberflächenphänomene – Wandel der Fachtermini
Bezeichnungen des Faches
Über die Jahrzehnte wechselten beispielsweise die Bezeichnungen für unser Fach u.a. von „Sprachheilpädagogik“ über „Sprachbehindertenpädagogik“ hin zu „Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation“.
Bezeichnungen der Zielgruppen
Eine ähnliche Entwicklung ist in der Bezeichnung der Zielgruppen des Faches zu erkennen. Während beispielsweise eine Person mit Stottersymptomatik früher als „der Stotterer“ bezeichnet wurde, wandelte sich die Bezeichnung zunächst zu „der stotternde Mensch“. Eine Nominalisierung wurde somit zu einem Adjektiv umfunktioniert. Man stellte mit dieser Bezeichnung den Menschen in den Mittelpunkt. Der zeitgemäße Begriff lautet heute „eine Person mit Beeinträchtigung im Bereich des Redeflusses“. Mit dieser Bezeichnung wird die Person bzw. die Persönlichkeit des Menschen und die Tatsache, dass es sich wie bei jedem Menschen um ein individuelles und vollwertiges Mitglied der Gesellschaft handelt, noch mehr betont. Die Störung wird nicht personifiziert, sondern als Ergänzung genannt. Dies entspricht dem inklusiven Geist der aktuellen UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations 2006) (Kap. 8).
Bezeichnungen von Störungen
Vergleichbare Veränderungen innerhalb der Terminologie sind ebenfalls bei den Störungsbezeichnungen zu beobachten. Im Laufe der Zeit änderten sich die Bezeichnungen, z. B. von „Stammeln“ zu „Dyslalie“ bis hin zu „Aussprachestörungen“ und dann zu „phonetischen bzw. phonologischen Störungen“ (Kap. 5).
Bezeichnungen von Institutionen
Ebenso wechselten die Bezeichnungen für Praxisinstitutionen, z.B. von „Sprachheilschule“ zu „Schule mit dem Förderschwerpunkt Sprache“. Auch Studienstätten wurden umbenannt und weisen eine spezifische Terminologie auf, z.B. „Sprach-Pädagogik und -Therapie“ (Leibniz Universität Hannover) oder „Sprachbehindertenpädagogik in schulischen und außerschulischen Bereichen“ (Universität zu Köln).
Hintergrund terminologischer Vielfalt
Die veränderten Termini finden auch zu jeder Zeit Einzug in Gesetzestexte, in Richtlinien der Krankenkassen, in bildungspolitische Vorgaben sowie in die KMK-Empfehlungen. Wichtig zu wissen ist, dass dieser permanente Wechsel der Fachbegriffe keine Willkür ist. Wie bei einem Eisberg sind die für uns wahrnehmbaren terminologischen Veränderungen an der Oberfläche durch grundsätzliche und für uns zunächst unsichtbare Änderungen in der Tiefe des Faches verursacht (Abb. 5). Erst durch eine wissenschaftstheoretische, metatheoretische Reflexion werden diese erkennbar (Abb. 2).
Abb. 5: Die Spitze des Eisberges: Fachlicher Wandel an der terminologischen Oberfläche in Abhängigkeit von der paradigmatischen Tiefenstruktur
1.3.2 Tiefenphänomene – Wandel der Paradigmen
Paradigma
Die nicht so leicht zugängliche Tiefenstruktur eines Faches wird durch paradigmatische Entscheidungen bestimmt. Hierzu gehören auch die erwähnten normativen Vorentscheidungen.
Ein Paradigma ist ein vorherrschendes wissenschaftliches Denkmuster in einer bestimmten Zeit – eine Art „Brille", durch die alle fachlichen Ebenen (Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen, Praxis, Praxiskonzepte, Theorie, Metatheorie) in einer bestimmten Art und Weise „gefärbt“ gesehen werden.
„Durch-die-Brille-Sehen“
Wie jede andere Wissenschaft, unterliegt auch die Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation jeweils einem zeitgemäßen Paradigma, das alle Ebenen des pädagogischen Handelns beeinflusst (Kap. 6): die Wahrnehmung der Menschen mit Beeinträchtigungen (I), die konkrete Praxis (II), die Praxiskonzepte (III), die Theorie (IV) und die Metatheorie (V). Aus den jeweiligen wissenschaftlichen Annahmen, Vorstellungen und Leitsätzen zu sprachlichkommunikativen Phänomenen und Fragestellungen ergeben sich entsprechend gefärbte Ansätze für die Sprachdidaktik. Mit dieser „Brille“ wird dann sprachpädagogische und sprachtherapeutische Arbeit in der Praxis umgesetzt (Abb. 6).
Abb. 6: „Realität“ des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation je nach Paradigma
Im Laufe der letzten hundert Jahre brachte das „Durch-die-Brille-Sehen“ verschiedene Sichtweisen hervor, die sich exemplarisch anhand von drei sehr einflussreichen paradigmatischen Ansätzen veranschaulichen lassen (Tab. 1):
medizinisches Paradigma,
behavioristisches Paradigma,
konstruktivistisches Paradigma.
medizinisches Paradigma
Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte das medizinische Paradigma vor (Grohnfeldt 2014b; Lüdtke 2010a, 2010b). Auf der Ebene der Metatheorie (V) bestand die Vorstellung von der menschlichen Entwicklung nach intrinsischen, vorgegebenen Mustern, Regeln und Normen. Die vorherrschendende Auffassung war, dass sich das Sprechen rein auf der Grundlage eines intakten Zustandes der Sprechwerkzeuge vollzieht. Dementsprechend wurde auf der Theorieebene (IV) vorwiegend Forschung über die organische Funktionsfähigkeit des Sprechens betrieben. Mit stark medizinisch orientierten Vorstellungen entstanden Praxiskonzepte (III) mit dem Ziel der Herstellung der Funktionsfähigkeit von Zunge, Lippen, Kiefer, Gaumensegel und Kehlkopf. In der Praxis (II) wurden entsprechende Übungsbehandlungen zum Aufbau fehlender oder sich abweichend entwickelnder Funktionen des Mund-Nasen-Rachenraumes in der Verbindung mit Sprechabläufen verfolgt.
Beispielsweise dienten ausschließlich isolierte Sprechübungen vor einem Therapiespiegel dazu, dem Kind die Bewegungen von Lippen, Zunge und Kiefer im Vollzug des Sprechens zu visualisieren. Das Kind sollte damit ein korrektes Muster für den Sprechablauf übernehmen. Da jedoch dabei wenig das kommunikative und inhaltliche Interesse der kindlichen Auseinandersetzung fokussiert wurde, gelang dem Kind oftmals nicht die Anwendung des Musters in der Alltagssprache (Tab. 1).
behavioristisches Paradigma
In den 1960er Jahren bestimmte das behavioristische Paradigma sprachpädagogische und sprachtherapeutische Denkmuster (Lüdtke 2010a, 2010b). Die Vorstellung auf der Metatheorie (V) bestand darin, dass ein bestimmter Input einen bestimmten Output bei der sprachlichen Entwicklung bewirkt. Man stellte sich vor, dass der Mensch wie eine Maschine funktioniert, die einen einwirkenden Reiz automatisch mit einer Reaktion im Verhalten beantwortet (Mills 2000). So wurden auf der Ebene der Theoriebildung (IV) im Wesentlichen Verhaltensmodifikationen im Bereich der Sprache erforscht. Es wurde der Frage nachgegangen, wie beispielsweise ein Kind auf die sprachliche Ansprache der Eltern mit einer entsprechenden Sprachproduktion reagiert. Die theoretische Vorstellung des Reiz-Reaktions-Prinzips beeinflusste wiederum die Ebene