Ulrike Lüdtke

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache


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      Eine allgemeine Definition des vorrangigen Ziels einer Wissenschaft könnte beispielsweise sein, überprüfbare Aussagen über einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit zu machen, um ihre Phänomene zu erklären. Für eine metatheoretische Betrachtung der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation als Wissenschaft (Kap. 2) ist deshalb interessant, mit welchen Forschungsmethoden (Kap. 3) sie welche Aussagen generiert und überprüft, welche Konzepte und Theorien sie hieraus ableitet und ob und wie die zuvor genannten inneren oder äußeren Einflussgrößen hierauf einwirken.

      1.1.3 Verbindung von Theorie und Praxis

      Erkenntnistheorie und Methodologie

      Mit der Frage, wie man in einem Fach zu Aussagen über die Wirklichkeit kommt, beschäftigen sich die eng mit der Wissenschaftstheorie zusammenhängenden Disziplinen der Erkenntnistheorie und der Methodologie (Kap. 3).

      Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft, die sich mit Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnisprozessen und der Generierung von Wissen auseinandersetzt.

       Methodologie beschäftigt sich als Metawissenschaft mit der Analyse wissenschaftlicher Methoden der Erkenntnisgewinnung. Sie ist zu unterscheiden von der Methodik als Wissen über konkrete Methoden.

      Wie für andere Disziplinen auch, ist es das Ziel unseres Faches, Aussagen über seinen spezifischen Bereich der Wirklichkeit zu machen. Erkenntnistheoretisch und methodologisch türmt sich hier jedoch ein Berg an Fragen und Zweifeln auf, mit dem sich die Wissenschaft und Philosophie in allen Kulturen seit jeher beschäftigt haben:

       Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit? Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit?

       Kann ich die Wirklichkeit überhaupt erkennen? Oder ist meine Erkenntnis immer verzerrt?

       Gibt es überhaupt wahre Aussagen über die Wirklichkeit?

       Was ist mein Erkenntnisinteresse? Verändert sich das zu Erkennende je nach Interesse?

       Welchen Teilbereich der Wirklichkeit versuche ich zu erkennen? Kann ich einen Teil aus dem Ganzen isolieren? Verändere ich den Erkenntnisgegenstand dadurch?

       Welche Methodik verwende ich zum Erkennen? Verändert jede Methodik den Untersuchungsgegenstand und wenn ja, wie?

      Induktion und Deduktion

      Neben diesen Fragen, mit denen wir uns im Kapitel zur Forschung intensiver auseinandersetzen werden (Kap.3), bleibt zu klären, wie sich das Verhältnis zwischen speziellen aus der Wirklichkeit gewonnenen Erkenntnissen und allgemeineren Theorien hierüber darstellt. Neben vielen anderen Möglichkeiten haben sich in der abendländischen Philosophie, speziell der Logik, hierzu zwei große Traditionen herauskristallisiert, die für unser Fach derzeit besonders relevant sind: die Induktion und die Deduktion (Abb.3).

      Induktion bezeichnet den abstrahierenden Schluss von erkannten speziellen Phänomenen (z.B. gewonnene Daten) auf allgemeine Aussagen, Gesetzmäßigkeiten, Theorien.

       Deduktion bezeichnet den ableitenden Schluss von allgemeinen Prämissen (z.B. Aussagen, Gesetzmäßigkeiten, Theorien) auf ein spezielles Phänomen oder einen Einzelfall.

      Die fachliche Entwicklung der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation kann beiden Wegen folgen. Zum einen erforscht sie im Sinne eines induktiven Vorgehens, z. B. mittels empirischer Studien über den Einfluss der sozialen Lebenslage auf die frühe Sprachentwicklung, die Wirklichkeit des Alltags und stellt auf dieser Datenbasis allgemeine Theorien auf: Von der Praxis zur Theorie. Zum anderen leitet sie gemäß einem deduktiven Verfahren von einer aufgestellten Theorie konkrete Handlungskonzepte ab, um sie in der Praxis anzuwenden, z.B. Sprachförderkonzepte von einer Spracherwerbstheorie: Von der Theorie in die Praxis.

      Zusammenhang der Zugangsweisen

      Beide Zugangsweisen sind jedoch zirkulär miteinander verbunden. Beispielsweise kann die Überprüfung eines Handlungsmodells mittels einer Wirksamkeitsstudie wieder induktiv genutzt werden, indem ihre Ergebnisse den theoretischen Überbau stützen oder ihn verändern. Zugleich basiert die Konzeption weiterer Untersuchungen wieder auf aktualisierten theoretischen Prämissen (Abb. 3).

      In der empirischen Studie „Kinder mit spezifischen Spracherwerbsstörungen (Ki.SSES)" (Glück 2011-2014), in der Lehrkräfte mit dem Förderschwerpunkt Sprache bundesweit u.a. zu den Aspekten eines effektiven Unterrichts für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen befragt wurden, konnten wichtige Kriterien für eine notwendige sprachlich-kommunikative Unterstützung in schulischen Lernprozessen ermittelt werden. Diese Erkenntnisse dienten der weiteren Theoriebildung über sprachlich-kommunikative Rezeptions- und Produktionsvorgänge im Zusammenhang mit fachlichen Unterrichtsgegenständen (Theisel / Glück 2012).

      Die aus dieser Studie entwickelten Handlungsmodelle sind hinsichtlich der Wirksamkeit im Unterricht mit Schülerinnen und Schülern im Kontext heterogener sprachlich-kommunikativer Ausgangslagen wiederum zu überprüfen. Dazu kann die Evaluationsforschung die Annahmen förderlicher sprachlich-kommunikativer Unterstützungsfaktoren bestätigen oder widerlegen.

      Literaturempfehlungen zu wissenschaftstheoretischen Grundlagen

      Opp, K.-D. (2013): Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung und praktische Anwendung. 7. Aufl. Springer VS, Berlin

      Wiltsche, H. A. (2013): Einführung in die Wissenschaftstheorie. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen

      1.2 Phänomene und Ebenen des Faches

      Ausgangspunkt und Fragestellungen

      Wie bereits veranschaulicht wurde (Abb. 3), ist der Ausgangspunkt einer jeden Konzeptualisierung unseres Faches diejenige Wirklichkeit, die sie zu analysieren und erklären versucht. Die bisherigen Überlegungen haben in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass bereits hier erste Vorentscheidungen über eine bestimmte fachliche Positionierung z. B. mit folgenden Fragestellungen getroffen werden:

       Welcher spezifische Ausschnitt der Wirklichkeit wird ausgewählt?

       Welche anderen Aspekte werden dadurch ausgeklammert?

       Welche Phänomene treten damit in den Fokus?

       Was ist das leitende Erkenntnisinteresse?

       Mit welcher Methodik wird Wissen über die Phänomene generiert?

       In welcher Art und Weise beeinflusst die Methodik das Erkennen der Phänomene und das Wissen über sie?

      Um einen Überblick über die Phänomene und Ebenen des Faches