Ulrike Lüdtke

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache


Скачать книгу

nach diesem Prinzip hervorbrachte. Die Umsetzung auf der Praxisebene (II) folgte ebenso diesem Prinzip. Häufig wurden dabei Verstärker eingesetzt.

img1

      Das im Unterricht und in der Sprachtherapie eingesetzte Bild- und Spielmaterial, z.B. bei einem Brettspiel, besaß zuweilen ausschließlich einen illustrierenden Charakter. Bunte Farben und lustige Figuren sollten zur spielerischen Auseinandersetzung motivieren. Die tatsächliche Handlung des Kindes bestand aber oft nur als Nachsprechleistung fester Satzvorgaben. Das Bild wurde dabei nur als Verstärker benutzt (Tab. 1).

      konstruktivistisches Paradigma

      Heutige Denkmuster der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation orientieren sich häufig am konstruktivistischen Paradigma (Lüdtke 2010a, 2010b). Auf der Ebene der Metatheorie (V) existiert die Vorstellung, dass die Menschen vernetzt mit ihrer Umwelt sind und sich selbst im Austausch mit dem System regulieren. Menschen handeln nicht isoliert nach vorbestimmten Regeln und nicht nach einem einseitigen Input-Output-Modell, sondern strukturell gekoppelt. Die Individuen sind dementsprechend in einer intersubjektiven Konstruktion aufeinander bezogen (Reich 2008). Die Forschungen auf der Theorieebene (IV) beziehen sich dabei auf die Wechselwirkungen der menschlichen Sprache mit dem sozialen System. Konzeptionen auf der Ebene der Praxiskonzepte (III) stellen das Rekonstruieren im sprachlich-kommunikativen Austausch und im Dialog in den Vordergrund. Für die sprachpädagogische und sprachtherapeutische Arbeit in der Praxis (II) bedeutet dies, dass individuelle und relationale Sprachlernzugänge innerhalb intersubjektiver Kontexte, symmetrischer Beziehungsgestaltungen und dialogischer Kommunikationsformen arrangiert werden müssen.

img1

      Der Erwerb grammatischer Strukturen wird heute beispielsweise im unterrichtlichen und therapeutischen Setting in multimodalen Zusammenhängen gefördert. Nicht allein das sprachliche Produzieren des Kindes steht im Vordergrund. Im Wechsel von Hören, Verwenden und Reflektieren grammatischer Angebote innerhalb von intersubjektiv bedeutsamer Kommunikationssituationen, z.B. im dialogischen Bilderbuchlesen, werden dem Kind wichtige grammatische Erscheinungen offengelegt, die es im aktiven dialogischen Prozess mit bislang erworbenen Strukturen abgleicht, ergänzt oder neu strukturiert (Tab. 1).

chap1_4

      Literaturempfehlungen zu Paradigmenbildung

      Kuhn, T. (i.O. 1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt / M., Suhrkamp

      Braun, O. (2012): Geschichte. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 19–35

      1.3.3 Selbstreflexive Haltung

      Reflexion des Individuums

      Eine selbstreflexive Haltung ist unerlässlich im sprachpädagogischen und sprachtherapeutischen Bereich. Sie beinhaltet die Reflexion der eigenen Person in ihren professionellen Bezügen und spezifischen Verhaltens- und Arbeitsweisen. Eine selbstreflexive Haltung zu haben bedeutet, immer wieder einen Schritt zurückzutreten, sich selbst und andere zu beobachten, zu analysieren und zu reflektieren, z.B. eine fiktive Unterrichts- oder Therapieplanung hinsichtlich einer Evaluation der realen Durchführung und konkreten Ergebnisse. Hierzu ergeben sich z.B. folgende selbstreflexive Fragen (Abb. 7):

       Sind meine Ableitungen aus der diagnostischen Erhebung für sprachpädagogische oder sprachtherapeutische Zielsetzungen präzise hergestellt?

       Habe ich die Kompetenzen und Ressourcen aller Beteiligten in der Unterrichts- oder Therapieplanung optimal berücksichtigt?

       Sind die von mir geplanten Unterrichts- oder Therapieziele erreicht?

       Sind die eingesetzten Methoden adäquat und effektiv für den individuellen Lern- und Entwicklungsprozess?

      Reflexion des Faches

      Es ist von Bedeutung, dass die Selbstreflexion sowohl vom Individuum als auch vom Fach in seiner Gesamtheit ausgeht, z.B. aus der wissenschaftlichen Perspektive. Selbstreflexive Haltung ist ein Zeichen von Professionalität, die z.B. in Praktikumsberichten, Forschungsprojekten, Praxisstunden in der Ambulanz etc. erkennbar wird.

      Professionalität im pädagogischen Handeln bezieht sich erstens auf spezifische Wissensbestände und Erkenntnisse, die in der Aus- und Fortbildung sowie in der Reflexion der Praxis erworben werden. Zweitens handelt es sich auch um die Anwendung des Wissens und der Erkenntnisse in komplexen und spezifischen Situationen der beruflichen Praxis.

      Aufgrund der komplexen Aufgaben der pädagogischen Praxis muss Wissen und Handeln auf der Basis einer reflektierten Haltung stetig miteinander abgeglichen und verknüpft sowie weiterentwickelt werden (Schrittesser 2011). Selbstreflexive Fragen der Wissenschaft an das Fach sind z.B. (Abb. 7):

       Sind mit diesem erkenntnistheoretischen Zugang Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu gewinnen?

       Sind mit einer eingesetzten Forschungsmethode neue Aussagen zu generieren?

       Eignen sich die entwickelten Theorien dafür, die Qualifizierung und Professionalisierung der Fachkräfte sowie das Lehren und Lernen im Kontext sprachlich-kommunikativer Beeinträchtigungen zu konzeptualisieren?

chap1_5

      1.4 Zentrale Begriffe

      fachliche Grundfragen

      Im Folgenden werden weitere zentrale Begriffe unseres Faches im Überblick vorgestellt, die in den nachfolgenden Kapiteln dieses Buches ausführlich und detailliert behandelt werden. Diese Begriffe prägen maßgeblich das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation. Sie charakterisieren die Fachdisziplin und positionieren diese in der Wissenschaft sowie im Beruf. Dazu werden leitende Grundfragen gestellt und beantwortet, die sich besonders bereits zu Beginn des Studiums, aber auch immer wieder in der späteren Praxis stellen. Nachfolgende Fragen sind relevant:

       Wie ist das Fach in der Wissenschaft verortet, welche zentralen Bereiche stehen im Fokus und welche Bezüge existieren zu anderen Wissenschaftsdisziplinen?

       Welche Professionsstrukturen weist das Fach auf?

       Welcher fachliche Gegenstand wird behandelt und wie ist dieser strukturiert? Welche Zielgruppe steht im Fokus?

       Welche Aufgabenbereiche stehen im Mittelpunkt des Fachs und in welchen Handlungsfeldern werden diese umgesetzt? Wie wird Inklusion im Fach realisiert?

       Welchen Stellenwert haben Globalisierung und Internationalisierung im Fach und wie wird dies konkret gelebt?

      1.4.1 Fachdisziplin

      Wissenschaftsdisziplin

      Das