Ulrike Lüdtke

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache


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       LernzielePädagogik als Leitwissenschaft für das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation verstehen (Kap. 2.1),sprachphilosophische und anthropologische Grundlagen unseres Faches reflektieren (Kap. 2.2),pädagogische Grundlagen des Faches kennen und daraus relevante Fragestellungen für die Sprachpädagogik und die pädagogische Sprach- und Kommunikationstherapie ableiten (Kap. 2.3).

      2.1 Pädagogik als Leitwissenschaft

      Das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation wird seit Bestehen stets als Integrationswissenschaft verstanden (Knura 1982). Dazu existieren die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft als Leitwissenschaft (Kap. 1) und weitere Disziplinen als Bezugswissenschaften, welche von der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation integriert werden (Abb. 8).

      Eine Integrationswissenschaft bezeichnet eine Wissenschaftsdisziplin, die unterschiedliche Teilbereiche anderer Wissenschaftsdisziplinen rezipiert. In der Forschungsarbeit werden Erkenntnisse und Ansätze der anderen Wissenschaftsdisziplinen analysiert und unter dem Fokus und Gegenstandsbereich des eigenen Faches adaptiert und integriert. Derartige Integrationswissenschaften werden auch als interdisziplinär ausgerichtete wissenschaftliche Fachrichtungen beschrieben.

      Unter Leitwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin zu verstehen, die als maßgebliche Orientierung für ein Fach zu sehen ist. Die Denkmuster und Erklärungsansätze einer leitenden Wissenschaftsdisziplin bestimmen primär die

      Ausrichtung eines Faches und den Fokus der Analyse, Rezeption, Reflexion, Adaptation und Integration anderer Wissenschaften.

      Eine Bezugswissenschaft liefert theoretische Ansätze und Erkenntnisse, die in einer anderen Disziplin als Wissensgrundlage und Erklärungsmuster genutzt werden können. In der Zusammenführung innerhalb einer Integrationswissenschaft können mit dem Wissen mehrerer Bezugswissenschaften spezifische und komplexe Fragestellungen beantwortet werden.

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      Komplexität der Praxisphänomene

      Warum aber hat unser Fach seit jeher diesen integrativen Charakter? Dies wird deutlich, wenn wir uns die Komplexität unserer fachlichen Aufgabenstellungen auf der Ebene der Praxisphänomene anschauen. Dazu wird eine weitere Situation des Jungen aus dem Fallbeispiel 3 Bastian (Kap. 1) geschildert und im Anschluss daran im Hinblick auf Erkenntnisse der Bezugswissenschaften beleuchtet.

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      Im Unterricht der zweiten Klasse werden Zeichnungen von den Schülerinnen und Schülern über ihre Wochenenderlebnisse angefertigt. Die Zeichnungen fungieren als Grundlage für anschließende Erzählungen der Kinder. Bastian versucht der Lehrerin seine gezeichnete Figur aus dem Fernsehen näher zu erläutern. Die Lehrkraft kann jedoch den undeutlich ausgesprochenen Namen der Figur nicht verstehen. Bastian wiederholt mehrmals den Namen. Auch auf Nachfrage der Lehrerin und Benennungsversuchen ihrerseits gelingt keine eindeutige Aufl.ösung. Ebenso wenig führen Bastians mimische und gestische Unterstützungen zum Erfolg. Er zeigt sich höchst verunsichert, da er doch genau weiß, wie die Figur heißt. Zudem spricht er auch den Namen der Figur mit ganz besonderer Konzentration aus. Bastian schickt nun Hilfe suchende Blicke an seine Mitschülerinnen und Mitschüler. Es dauert eine Weile und wirkt wie eine Erlösung, als ein Mädchen endlich den rettenden Einfall hat und „Spongebob!“ ruft.

      Bezugsdisziplinen des Faches

      Das oben geschilderte Fallbeispiel wird im Folgenden vor dem Hintergrund der Bezugsdisziplinen des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation hinsichtlich einzelner Aspekte analysiert und anschließend pädagogisch zusammengeführt.

      Semiotik Soziologie

      Der Junge versucht in der Unterrichtssituation mehrmals ein bestimmtes Zielwort – Spongebob – korrekt auszusprechen. Er ist sich dabei über den Inhalt genau im Klaren und möchte darüber etwas erzählen. Er unterstützt sein Sprechen mit den nonverbalen Mitteln der Mimik, Gestik und des Hilfe suchenden Blickkontaktes. Diese vielfältigen kommunikativen Zeichen, die der Junge in der Gesprächssituation auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen anwendet, können durch die Wissenschaftsdisziplin der Semiotik erklärt werden.

      Soziologie

      Weiter zeigt das Fallbeispiel, dass der Schüler sprachlichen Normen, hier der korrekten Aussprache bzw. Artikulation, nicht entsprechen kann. Da Bastian spürt, dass die Lehrerin ihn deshalb nicht versteht, verstärkt sich sein bereits bestehendes Störungsbewusstsein. Auch wenn die Lehrerin ihrerseits alles tut, um Bastians Leidensdruck durch ihre Reaktion auf seine beeinträchtigte Aussprache nicht noch zu verschlimmern, so ist sie wiederum in der Zwickmühle, dass sie sowohl seine mündlichen Unterrichtsbeiträge als auch deren ebenfalls fehlerhaften Verschriftlichungen leistungsmäßig mit Noten beurteilen muss Dieses komplexe Rahmenthema der Vermittlung sprachlicher Normen sowie deren institutioneller, gesellschaftlicher und kultureller Kontext kann mit der Bezugswissenschaft der Soziologie, insbesondere der Sprachsoziologie (Erforschung des Wechselverhältnisses von Sprache und Gesellschaft), reflektiert werden.

      der korrekten

      Versucht man die nicht-gelingende Kommunikation zwischen Bastian und seiner Lehrerin auf einer noch tiefer liegenden Ebene zu verstehen, so stößt man auf das existenzielle Grundthema aller Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen: die Verletzlichkeit bzw. Vulnerabilität der Person in ihrem Kern. Aber auch die Lehrerin ist mit dem Thema Vulnerabilität konfrontiert, und zwar nicht nur mit der des Jungen, sondern auch mit ihrer eigenen, beispielsweise in Form ihrer Ungeduld oder Befremdungsreaktion im Umgang mit Beeinträchtigungen. Mit der Reflexion des individuellen wie gesellschaftlichen Umgangs mit Anders-Sein bzw. sprachlicher Differenz befasst sich die Philosophie, speziell die Sprachphilosophie.

      Linguistik, Medizin, Neurowissenschaften

      Im Fallbeispiel wird deutlich, dass die Aussprache des Jungen stark beeinträchtigt ist. Dagegen entspricht seine Sprach- und Kommunikationsfähigkeit den Erwartungen, da er die alternativen Benennungsangebote der Lehrerin – „Kung Fu Panda“ und „Star Wars“ – unmissverständlich als falsch zurückweist. Es gilt also herauszufinden, ob Bastians unverständlicher Lautbildungsprozess seine Ursachen beispielsweise in der Mundmotorik, in der auditiven Wahrnehmung oder in der phonematischen Differenzierung hat. Mit den Erkenntnissen der Linguistik, Medizin und Neurowissenschaften können solche Aspekte der Sprachrezeption, Sprachverarbeitung und Sprachproduktion – hier auf Ebene der Phonetik und Phonologie – erklärt werden

      Psychologie

      Die Situation, nicht verstanden zu werden und damit auch noch unangenehm im Mittelpunkt zu stehen, kann verletzen. Bastians Emotionen und seine Motivation weiterzusprechen werden davon negativ beeinflusst. Erst durch das Verständnis und die Hilfe des Mädchens kann sich sein Selbstwertgefühl wieder stabilisieren. Die wesentliche Rolle solcher relationaler Emotionen im sozial-intersubjektiven Kommunikationskontext kann mit der Bezugswissenschaft der Psychologie, v.a. der Entwicklungspsychologie und Neuropsychologie, analysiert werden

      Pädagogik / Erziehungswissenschaft

      Wird das Fallbeispiel in der Gesamtheit betrachtet, zeigt sich die pädagogische Dimension: