11: Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als Auftrag und Verantwortung
Sprache und Sprechen ist ein mehrdimensionales Phänomen, das sich nicht auf bloße sichtbare und hörbare Erscheinungen reduzieren lässt Unter der sprachlichen Oberfläche existieren Schichten, die von außen nicht direkt einsehbar sind, die aber entscheidend den Spracherwerb und den Sprachgebrauch des Menschen bestimmen Außerdem kann Sprache nicht losgelöst von der Individualität einer Person sowie von gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen gesehen werden Entsprechende Ableitungen auf Problembereiche sprachlich-kommunikativer Beeinträchtigungen ermöglichen den im Fach tätigen Personen eine umfassende und differenzierte Sicht auf ein sicheres pädagogisches Handeln Um die Mehrdimensionalität in Theorie- und Praxisverknüpfungen korrekt erfassen zu können, benötigt das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation eine Integration diverser Bezugswissenschaften, um daraus Orientierungen für die Sprachpädagogik und die pädagogische Sprach- und Kommunikationstherapie schaffen zu können.
Literaturempfehlungen zu sprachphilosophischen und anthropologischen Grundlagen des Faches
Kristeva, J, Gardou, C. (2012): Behinderung und Vulnerabilität. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 39-48
Lüdtke, U. (2012): Person und Sprache. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 61-81
Newen, A., Schrenk, M. (2013): Einführung in die Sprachphilosophie. WBG, Darmstadt
2.3 Pädagogische Grundlagen
Stellenwert der Pädagogik im Fach
Auf einer sprachphilosophischen und anthropologischen Fundierung unseres Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation werden in diesem Unterkapitel dessen pädagogische Grundlagen erörtert Die pädagogische Orientierung steht als Leitperspektive im Vordergrund, da es sich im Aufgabenfeld der Sprachpädagogik und der pädagogischen Sprach- und Kommunikationstherapie immer um Bildungs- und Erziehungsprozesse handelt.
Bildungs- und Erziehungsprozesse der Person in ihrer Sprachlichkeit (Kap. 2.2) sind Voraussetzung für sprachliche Lehr-Lern-Prozesse. Sprachliches Lernen beispielsweise von korrekten Pluralmarkierungen, Verbstellungsregeln oder Schluckmustern kann nicht ohne Bildung der Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen gedacht werden.
2.3.1 Sprachpädagogik und Sprachdidaktik
Die klassischen Aufgaben unseres Faches als Pädagogik sind die Themenpaare „Bilden und Erziehen“ sowie „Lehren und Lernen“ (Lüdtke / Bahr 2005, Lüdtke 2014b). Sie ergeben und entfalten sich stets zwischen den drei zentralen Bezugsgrößen (Abb. 12):
Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen, SprachpädagogIn, SprachtherapeutIn, LogopädIn, pädagogische Fachkraft etc. und
Sprache und Kommunikation sowie ihre vielfältigen Beeinträchtigungen als Lerngegenstand.
Jedes Themenpaar wird in einer Teildisziplin vertieft behandelt In der konkreten Fachpraxis sind jedoch alle vier Aufgaben stets sternförmig miteinander verschränkt (Abb. 12):
Die Sprachpädagogik stellt Theorien und Handlungsansätze für die Bildung und Erziehung von Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in der Lebensspanne zur Verfügung.
Als Grundlage dienen klassische pädagogische Grundfragen der Bildung und Erziehung:
Welche Bildungsziele sollen verfolgt werden?
Welche Bildungsinhalte sollen vermittelt werden?
Welche Erziehungsziele sind angemessen?
Welche Erziehungsstile und -mittel sind Erfolg versprechend?
Die Sprachdidaktik befasst sich mit Theorien und Handlungsmodellen der Organisation sprach- und kommunikationsspezifischer Lehr-Lern-Prozesse.
Orientierung bieten hier die klassischen didaktischen Grundfragen des Lehrens und Lernens:
Wie findet Lernen eigentlich statt?
Wie viel Freiheit und wie viel Struktur bzw. Grenzen brauchen die Lernenden?
Wie kann Lehren erfolgreich organisiert werden?
Kann und sollte man Lernzuwachs messen?
Hat Lernen Grenzen?
Abb. 12: Die Verschränkung von Sprachpädagogik und Sprachdidaktik
2.3.2 Bildung und Erziehung
In diesem Kapitel soll die Sprachpädagogik weiter behandelt werden. Spezifische sprachdidaktische Fragen werden dann in Kapitel 6 wieder aufgenommen. Da ja in der pädagogischen Leitorientierung unseres Faches nicht lediglich die Behandlung, Behebung oder Kompensation eines Störungsbildes im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie einer Verstehens- und Handlungsperspektive definiert wurde, steht die Sprachpädagogik unter dem „Primat der Sprachlichkeit“. Die sich daraus ergebenden übergeordneten Aufgaben im Bezugsfeld illustriert das Modell des „sprachpädagogischen Dreiecks“ (Abb. 13). Die zentralen Aufgaben der Sprachpädagogik sind (Abb. 12):
auf der Ebene des Individuums die Integration sprachlicher Identität,
auf der Ebene der Gesellschaft die Inklusion sprachlicher Heterogenität und
auf der Ebene der Kultur die Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe.
Abb. 13: Das sprachpädagogische Dreieck
Diese übergeordneten Aufgaben müssen nun durch Rezeption und Adaptation der genannten klassischen pädagogischen Grundfragen der Bildung und Erziehung (u.a. Gudjons 2012; Raithel 2005; Brezinka 1978) auf Prozesse des Bildens und Erziehens bei Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen spezifiziert werden (Abb. 14).
Balance der Interdependenz
Diese vielfältigen Bildungs- und Erziehungsprozesse spalten sich im sprachpädagogischen Feld – dargestellt am pädagogischen Dreieck (Abb. 13) – zwischen den personalen Polen der SprachpädagogIn bzw. der SprachtherapeutIn oder LogopädIn einerseits und der Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen andererseits am gemeinsamen Lerngegenstand Sprache und Kommunikation auf. Charakterisiert sind diese Prozesse durch Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) und Reziprozität (Wechselwirkung) (Abb.