Ulrike Lüdtke

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache


Скачать книгу

href="#fb3_img_img_b3ec1a0f-aae6-5306-8494-d6a77773c967.jpg" alt="chap2_7"/>

      Es erweist sich als besondere Herausforderung, eine Balance aufrechtzuerhalten, da komplexe Teilaspekte miteinander in permanent sich verändernder Wechselwirkung stehen. Wie diese in ihren Grundzügen charakterisiert werden können, wird im Folgenden anhand der fünf wichtigsten reziproken sprachpädagogischen Prozesse erläutert.

      Auftrag und Verantwortung – Bildsamkeit und Bereitschaft

      Bildungsauftrag

      Zu Beginn eines jeden sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozesses steht die sprachpädagogisch oder sprachtherapeutisch tätige Fachkraft vor der Aufgabe, für die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen einen Bildungsauftrag zu erfüllen und die Verantwortung dafür zu übernehmen (Abb. 14).

      Daraus ergeben sich komplexe, sehr grundsätzliche sprachpädagogische Fragestellungen (Lüdtke / Bahr 2005), die von den Fachkräften permanent im Bildungsprozess reflektiert werden müssen (Kap. 1) (Abb. 7):

       Inwieweit kann, darf und muss ich die Verantwortung für diesen konkreten sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozess übernehmen? Wo fängt dabei die Eigenverantwortung der Schülerin, der Eltern oder des Patienten an?

       Gehört diese spezielle Verantwortlichkeit überhaupt zu meinem Bildungsauftrag? Oder gehe ich zu weit?

       Ist diese Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen überhaupt mit diesem Bildungsauftrag einverstanden? Oder entzieht sie sich vermeintlich der Mitverantwortung, weil sie mir diesen Auftrag eigentlich nie selbst erteilt hat?

       Habe ich angemessene Bildungsangebote gemacht, in denen wir Auftrag und Verantwortlichkeiten gemeinsam klären und vereinbaren konnten?

      Bildsamkeit und Bereitschaft

      Analog zu dem vorher Gesagten stehen auf der anderen Seite die Personen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation zu Beginn jedes Therapieoder Förderprozesses ebenso vor einer Grundsatzentscheidung, die sich aus der Prämisse ihrer grundsätzlichen Bildsamkeit ergibt. Sie müssen die Bereitschaft mitbringen, die Bildungsangebote der Lehrenden und therapeutisch Tätigen auch anzunehmen. Sie müssen sich bilden und verändern wollen, denn eine fehlende Bereitschaft hindert den Lernprozess (Abb. 14).

      Die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen stehen demnach zu Beginn des Bildungsprozesses ebenfalls vor Fragestellungen, die je nach Beantwortung in ihrer Interdependenz und Reziprozität auf die pädagogisch-therapeutischen Fachkräfte zurückwirken. Die Reflexion dieser Fragen findet meist eigenaktiv beim Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen mit Beeinträchtigung statt. Wo dies nicht selbsttätig geschieht, kann es nötigenfalls auch bei der Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen angestoßen werden:

       Kommen die Bildungsbemühungen meiner Lehrerin, meiner Sprachtherapeutln oder meiner Logopädin wirklich bei mir an? Oder erreichen sie mich gar nicht, weil sie beispielsweise nicht zu mir passen oder ich mich eigentlich gar nicht ändern will?

       Was kann ich tun, um meine Bereitschaft zur Mitarbeit herzustellen? Welche Lernblockaden muss ich zunächst Aufl.ösen? Glaube ich, dass es sich lohnt, mich auf den Bildungsprozess einzulassen?

       Übernehme ich Eigenverantwortung für den Bildungsprozess? Oder lasse ich andere „mal machen"?

      Ziele und Wagnisse – Bedarf und Bedürfnis

      Klare Zielvereinbarungen

      Klare Zielvereinbarungen im sprachpädagogischen wie auch im sprachtherapeutischen Prozess helfen, Erfolge im Unterricht und in der Therapie herzustellen und zu sichern. Eine Zielerreichung ist jedoch nicht immer garantiert. Manchmal kann der unterrichtliche oder therapeutische Bildungs- und Veränderungsprozess auch scheitern (Abb. 14). Vielfältige Reflexionsfragen der sprachpädagogisch oder sprachtherapeutisch tätigen Fachkraft helfen, mit dem grundsätzlichen Risiko im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungsprozesse umzugehen:

       Habe ich mein Bildungsziel verfehlt? Bin ich hier in meiner sprachpädagogischen Tätigkeit gescheitert? Welchen Einfluss hat das auf meine Person? Wie gehe ich mit Erfolglosigkeit um?

       Habe ich bei dieser Schülerin oder diesem Patienten zu viel oder zu wenig gewagt?

       Waren meine sprachlichen Ziele von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Hätte ich alles anders machen müssen?

       Habe ich den Mut und das Vertrauen, es in dieser Klasse noch einmal zu wagen?

       Sehe ich noch einen Sinn darin, es bei dieser Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen mit den gleichen oder anderen sprachlichen bzw. sprachpädagogischen Zielen weiter zu versuchen?

      Förderbedarf und -bedürfnis

      Ebenso müssen beim sprachpädagogischen Bildungsprozess die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen reflektieren, welcher von außen festgestellte sprachliche Bedarf, welches von außen vorgegebene Ziel und welches innere Bedürfnis zur Veränderung und Zielerreichung vorhanden ist bzw. ob dazu das Wagnis einer Veränderung eingegangen werden soll (Abb. 14) Denn auch wenn ein festgestellter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprache oder ein sprachtherapeutischer Förderbedarf zur Behandlung einer Aussprachestörung vorliegt, so muss der diagnostizierte Bedarf nicht immer dem Bedürfnis der betreffenden Person entsprechen. Eventuell erscheint dem Kind das sprachpädagogische oder sprachtherapeutische Vorhaben nicht bedeutsam, da z. B. ein in Aussicht stehender Kompetenzzuwachs im Bereich der Artikulation gar keine Würdigung im Umfeld erfährt. Die Familie findet z.B. das Lispeln eigentlich sehr „süß“.

      Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen sollten sich folgende Reflexionsfragen stellen:

       Habe ich ein inneres Bedürfnis nach Weiterentwicklung meiner sprachlichkommunikativen Fähigkeiten? Oder fühle ich mich in meiner Sprachlichkeit, in meiner sprachlichen Identität trotz eines von außen festgestellten Förderbedarfes sehr wohl?

       Will ich bleiben, wie ich bin? Will ich die „Hilfe“ bzw. „Zuwendung“ der SprachtherapeutIn oder der LogopädIn eigentlich gar nicht?

       Stehen gesellschaftliche, staatliche oder elterliche Bildungsziele bzw. Bildungsbedürfnisse“ über meinen persönlichen? Kann ich über mein eigenes sprachliches Lernbedürfnis bestimmen oder zwingt man mir Bildungsziele auf?

      Inhalte und Beziehungen – Norm und Freiheit

      Beziehungsgestaltung zu Lernenden

      Eine weitere Komponente der sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozesse ist die Vermittlung sprachlicher Inhalte im Rahmen einer Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Lernenden (Abb. 14). Im Bereich der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation kann eine Verschränkung der Inhalts- und der Beziehungsebene für den Erwerb sprachspezifischer Kompetenzen genutzt werden. Beispielsweise erhöht eine Therapiesituation mit einer angenehm entspannten Atmosphäre für die sprachtherapeutische Fachkraft wie auch für den Erwachsenen mit einer Stottersymptomatik die Chance, Techniken zur Überwindung der Sprechblockaden zu erlernen. Reflexionsfragen hierzu sind:

       Kann ich die interdependente Verschränkung von Inhalts- und Beziehungsebene speziell für das Erlernen