Ulrike Lüdtke

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache


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10):

      1 Ist Bastian in seiner Sprachlichkeit beeinträchtigt? Dies wäre der Fall, wenn sein Störungsbewusstsein so tief und nachhaltig ist, dass seine sprachliche Identität zu zerbrechen droht.

      2 Liegt Bastians undeutlicher Aussprache ein Problem auf der Ebene des Sprachsystems zugrunde? Dies könnte dann eine phonologische Sprachentwicklungsstörung z.B. aufgrund einer phonematischen Differenzierungsschwäche sein (Kap. 5).

      3 Oder hat seine Aussprachestörung ihre Ursache eher auf der Ebene des Sprechens als Handlungsvorgang? Dann wäre dies ein Hinweis auf eine phonetische Aussprachestörung z.B. aufgrund einer myofunktionell bedingten Artikulationsschwäche (Kap. 5).

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      Unabhängig davon, welche Komponente(n) der Sprache einer Person beeinträchtigt sind und der Unterstützung bedürfen, muss bei sämtlichen Aufgabenstellungen nicht additiv ein bestimmtes Störungsbild diagnostiziert und eine dazu passende Sprachförderung oder Sprachtherapie geplant werden, sondern es muss zunächst ganzheitlich der Mensch in seiner beeinträchtigten Sprach- und Kommunikationsfähigkeit erfasst werden Der Mensch in seiner Sprachlichkeit ist der unabdingbare Kern unseres durch die Pädagogik geleiteten Faches und damit seine Ausgangsbasis und seine Zielkategorie zugleich (Abb. 9).

      Im Folgenden werden wir aus sprachphilosophischer und anthropologischer Perspektive nur die erste Komponente der Sprachlichkeit weiter vertiefen. Den Komponenten von Sprache als System und Sprechen als Sprachhandlungsvollzug wird in Kap. 5 weiter nachgegangen

      2.2.2 Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als Auftrag und Verantwortung

      Die nachfolgenden Überlegungen gehen der anthropologisch relevanten Frage nach, welche Auswirkungen sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen auf das betroffene Individuum, die Gesellschaft und die Kultur haben und welche Veränderungen daraus resultieren (Lüdtke 2012a). Daraus folgernd werden jeweils (sprach)pädagogische Prämissen skizziert, wie innerhalb pädagogischer Bildungsprozesse mögliche personale Beschädigungen verhindert oder aufgefangen werden können. Die Kernidee, die Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als grundsätzlichen Auftrag und Verantwortung unseres pädagogisch geleiteten Faches zu betrachten, wird im nachfolgenden Unterkapitel über die pädagogischen Grundlagen (Kap 2.3) weiter ausgeführt

      Individuum: Integration sprachlicher Identität

      Personwerdung: De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst

      Grundsätzlich stellt die Philosophische Anthropologie Überlegungen zur Stellung des Menschen als sprachfähigem Wesen an. Eine erste Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen aus anthropologischer Sicht erfolgt auf der Ebene des Individuums bzw. des Selbst mittels des zentralen Konzeptes der „Sprachlichen Identität“ (Lüdtke 2012a). Diese wird hier postmodern als permanente De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst zwischen den Achsen Zugehörigkeit / Abgrenzung und Selbstwahrnehmung / Fremdwahrnehmung konzeptualisiert und ist unabdingbare Voraussetzung der Personwerdung (Abb. 11).

      Schon in einem Lebensvollzug ohne sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen ist sprachliche Identität das Ergebnis eines inter- und intrapersonalen sozio-emotionalen Balanceaktes und Integrationsprozesses, in dem alltägliche Konflikte, Widersprüche, Divergenzen und Disharmonien zwischen internen und / oder externen sprachspezifischen Fremd- und / oder Selbstbildern aufgelöst werden müssen

      Depersonalisierung: Kohärenz-Auflösung und Identitätszerfall

      Die auftretende sprachlich-kommunikative Beeinträchtigung eines Menschen führt aber meist zu einem folgenschweren Teufelskreis: Der Mensch verletzt durch seine Beeinträchtigung massiv die gesellschaftlichen Sprachnormen Die Gesellschaft sanktioniert den Affront gegen die kollektiven Spracherwartungen mit Stigmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsprozessen. Diese negativ erlebten individuellen oder institutionellen Erfahrungen haben Stigmaqualität, da sie als Bedrohung des sprachlichen Selbst interpretiert werden. Diese Bedrohlichkeit verursacht Irritationen in den Interaktionen, Einschränkungen der verbalen Partizipation und letztlich emotional hoch bedeutsame sprachspezifische Identitätsprobleme Die dadurch erlebte Gefährdung kann die Gefühle der Verlorenheit und KohärenzAufl.ösung bei empfundenem Identitätszerfall hervorrufen und mittelfristig zu einer beschädigten sprachlichen Identität und damit letztlich zu einer Depersonalisierung führen (Abb. 11).

      Raum für Rekonstruktion beschädigter Sprachlichkeit

      Oberste pädagogische Prämisse zur Verhinderung von Identitätsbeschädigungen bei Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen muss deshalb die Integration sprachlicher Identität sein Raum für eine Rekonstruktion desintegrierter Sprachlichkeit kann von sprachpädagogisch und sprachtherapeutisch tätigen Personen auf drei verschiedenen Wegen ermöglicht werden. Erstens können der sprachlich-kommunikativ beeinträchtigten Person identitätsrekonstruierende Lösungswege über das Erleben der eigenen sprachlichen Kompetenz vermittelt werden, indem z.B. die sprachlich-kommunikativ beeinträchtigte Person einer anderen Person ein Rätsel stellt und sich damit in einer kompetenten, überlegenen Position befindet Zweitens kann sich in Förderung, Unterricht, Therapie oder Beratung statt an einem sprachwissenschaftlich bestimmten normativen Bildungsziel der linguistischen Homogenität zukünftig an einem sprachpädagogisch bestimmten autonomen Bildungsziel der Differenzanerkennung orientiert werden (Lüdtke 2004a, 2004b), indem z.B. eine sprachlich-kommunikativ beeinträchtigte Person bei der Planung des individuellen Förderziels selbst einbezogen wird. Und drittens sollte eine permanente Reflexion möglicher identitätsbeschädigender Akte der sprachpädagogischen bzw. sprachtherapeutischen Fachkraft selbst erfolgen, indem z.B. die Fachkraft das eigene Sprachhandeln und davon ausgelöste Wirkungen wahrnimmt und überprüft (Abb. 11).

      Am Fallbeispiel 2 Anna (Kap. 1) wird nachfolgend die Integration sprachlicher Identität durch Akzeptanz der Erstsprache verdeutlicht

      Anna, die zu Hause mit ihrer Familie Russisch spricht, sucht sich in der Kindertagesstätte Spielkameradinnen, die ebenfalls Russisch sprechen. Dieser Kontakt und diese Kommunikationsmöglichkeit bedeuten für sie eine Sicherheit im Prozess des täglichen Ankommens, stellt aber auch eine wichtige Basis dar, um sich generell in der neuen zweisprachigen Umgebung zurechtzufinden. Anna fällt der Schritt in die neue Sprache und die veränderten Kommunikationsformen aus einer gefestigten Position heraus leichter. Sie bildet somit allmählich eine zweisprachige Identität aus. Würde man den Kindern verbieten, in der Kindertagesstätte Russisch zu sprechen, dann müsste Anna ihre Erstsprache Russisch sozusagen an der Eingangstür „ablegen". Sie führe dann nur einen Teil ihrer Identität mit. Die Kita mit ihrer wertschätzenden bilingualen Kommunikationskultur sowie der Gebrauch verschiedenster Erstsprachen durch pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund unterstützen die sprachpädagogische Prämisse der Integration sprachlicher Identität.

      Gesellschaft: Inklusion sprachlicher Heterogenität

      Partizipation durch sprachliche Normentsprechung

      Die zweite Dimension, durch die sich das Verhältnis Person-Sprache bestimmt, ist die Gesellschaft (Lüdtke 2012a). Maßgeblicher konstitutiver Faktor sind dabei ihre jeweiligen sprachlichen Normen, welche unter den Aspekten ihrer Aufstellung, ihres Austausches und