Michael Weinrich

Karl Barth


Скачать книгу

Karl Barth? Eine erste Annäherung und zwölf Blitzlichter

      Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass Karl Barth wohl der bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Der Grund dafür liegt vor allem in seiner Neuentdeckung der besonderen Aufgabe der Theologie und der von ihm entschlossen vollzogenen kritischen Revision ihrer Tradition in ihrer ganzen Breite. Auch dort, wo Barths Impulse auf Skepsis oder auf unterschiedlich intensive Ablehnung stießen, nötigten sie dazu, die überkommenen theologischen Einsichten und die ihnen zugrunde liegenden methodischen und inhaltlichen Orientierungen kritisch zu sichten und erneut zu begründen. Indem Barth vor allem die liberale Theologie und den Kulturprotestantismus, die beide im 19. Jahrhundert bestimmend wurden, grundsätzlich in Frage stellte und zugleich sehr ambitionierte Anforderungen an eine den Bedingungen des 20. Jahrhunderts gerecht werdende Theologie stellte, war eine selbstverständliche Fortschreibung der herrschenden theologischen Konventionen nicht mehr möglich. Und so ist es vor allem seine Theologie gewesen, die den theologischen Kontroversen vor allem in der protestantischen Theologie direkt oder indirekt eine spezifische Prägung gegeben hat. Kein anderer theologischer Entwurf hat eine vergleichbar herausfordernde Beachtung gefunden.

      Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erweist sich Barths Theologie unter den sich rasant verändernden Umständen und Bedingungen in durchaus neuer Weise als ein keineswegs abgegoltener Entwurf mit teilweise überraschender Aktualität. Dabei hat ihre Wahrnehmung längst konfessionsübergreifenden Charakter gewonnen. Zunächst war es im 20. Jahrhundert die katholische Theologie, die ein bis in die Gegenwart anhaltendes Interesse an seiner Theologie zeigte. Heute kann festgestellt werden, dass sie sowohl in den dogmatischen als auch in den ethischen Auseinandersetzungen weltweit eine ökumenische Bedeutung erlangt hat, die nur sehr wenigen theologischen Entwürfen zuteilwird. Gewiss werden Barths Vorschläge sehr unterschiedlich wahrgenommen, aber es scheint sich eine Art Konsens über die von Barth angeregten theologischen Sensibilisierungen herauszubilden, der nicht zuletzt auf dem ökumenischen Potenzial seiner auf das Wort Gottes ausgerichteten biblisch orientierten Theologie basiert.

      Eine ganz andere Frage bleibt, ob die Anliegen Barths immer in angemessener Weise wahrgenommen wurden. Häufig wurden seine Zuspitzungen in der Rezeption verharmlosenden Entschärfungen, teilweise entstellenden Akzentverschiebungen oder sogar eigenwilligen Verdrehungen unterworfen, und zwar nicht nur von denen, die sie skeptisch und ablehnend bewerteten. Das wohlwollende Missverständnis hat dem abweisenden durchaus nichts voraus. Die Auseinandersetzung darüber hält bis heute an. Bei theologischen Entwürfen eines solches Formats werden sie wohl auch so lange nicht an ein Ende kommen, solange ihnen noch eine orientierende Bedeutung zugetraut wird, durchaus vergleichbar mit der Diskussion so bedeutender Theologen wie Augustin, Thomas von Aquin, Martin Luther oder Johannes Calvin.

      Erst als die Erschütterungen und Abgründe im weiteren Verlauf des Krieges allseits sichtbar wurden, kam es angesichts des bis dahin beispiellosen Gemetzels auf den Schlachtfeldern und des katastrophalen Ausgangs des Krieges zu einer allgemeinen Wahrnehmung dieser Krise. Das bisher weithin geltende geschichtsphilosophische Credo – der idealistische Optimismus einer sich permanent selbst vervollkommnenden Selbstverwirklichung des Menschen – war zumindest zwischenzeitlich bis in seine Wurzeln erschüttert. Damit war nun auch in der Theologie ein Boden dafür bereitet, die bisherigen Symbiosen und Koalitionen in Frage zu stellen. Beinahe alle für verlässlich gehaltenen Orientierungen gerieten ins Wanken, und die prinzipiell skeptisch gestimmte Frage, was in dem, was wir Wirklichkeit nennen, überhaupt noch Verlässlichkeit beanspruchen kann, wurde verbreitet gestellt – in der Philosophie ebenso wie in der Theologie, aber auch in der Literatur, im Theater, in der Musik und der Kunst. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges evozierte beinahe überall ein tief empfundenes Krisenbewusstsein, das – auch wenn es sich im Laufe der Jahre erstaunlich bald wieder weitgehend verflüchtigte – für das Verständnis des 20. Jahrhunderts insgesamt zumindest als Narbe bedeutsam bleibt.

      Unbeschadet von Barths besonderer Wahrnehmung dieser Krise bildete dieses epochale Krisenbewusstsein den allgemeinen Resonanzboden für seine theologischen Interventionen, sowohl für seine Diagnose und Zustandsbeschreibung der Katastrophe als auch für seine radikale theologische Deutung. Es war dieser Resonanzboden, der zunächst einen nicht unerheblichen Teil seines enormen Erfolgs ausmachte, und zugleich ist er auch einer der Gründe für die zahlreichen Missverständnisse und problematischen Aneignungen, denen seine Theologie von Anfang an ausgesetzt gewesen ist. Einerseits eignete diesem Resonanzboden eine ungewöhnliche Reichweite und andererseits war er von einer unbeschreiblichen Diffusität geprägt, die es zwar ermöglichte, dass er von recht unterschiedlichen Seiten aus betreten werden konnte, aber zugleich verhinderte, dass sich ein klares Profil der Krise identifizieren ließ. Barth hat später selbst diese Situation im Blick auf die verbreitete Wahrnehmung seiner Interventionen als durchaus ambivalent bewertet (vgl. Kap. V.2).

      Barths eigener Zugang war von vornherein ein entschlossen theologischer, auch wenn für ihn stets die historischen Umstände, unter denen sich etwas ereignete, von großem Interesse waren. Als Theologe empfand er es beim Ausbruch des Krieges als einen Skandal, in welcher Weise da Gott in das blindwütige Treiben hineingezogen wurde, so als lasse er sich für jede Schandtat in Anspruch nehmen, um sich das jeweilige Ansinnen von ihm absegnen lassen. Es könne nicht sein, dass sich mit Gott alles rechtfertigen lasse. Wenn es sich bei Gott nicht nur um einen Spuk handeln soll, könne es dem Menschen nicht einfach freigestellt sein, wie von ihm zu reden ist und in welcher Weise er jeweils in dem konkreten Zeitgeschehen in den Blick genommen wird. Und so könne es der Theologie auch nicht freigestellt sein, von wo aus sie die Welt betrachtet und in welcher Weise die Beziehung Gottes zum Menschen angemessen zur Sprache gebracht wird. Wenn sie eine sinnvolle Unternehmung sein soll, muss es für die Theologie eine verbindliche Orientierung geben, an der sich ihre Gottesrede und dann eben auch ihre Wirklichkeitsbetrachtung messen lassen müssen. Es kann nicht einfach eine Frage ihres freien Ermessens sein, von wo aus sie sich in den Verlegenheiten, in die sich der Mensch durch die Krise versetzt sieht, eine Orientierung erhofft. Allein, es bleibt die Frage, wie sie sich darin vergewissern kann, dass sie in der richtigen Richtung nach Orientierung Ausschau hält?

      Es gehört zu dem besonderen Charakter seiner Intervention, dass Barth, wenn es um Gott geht, dem Menschen die Möglichkeit bestreitet, von sich aus auch nur in die richtige Richtung blicken zu können. Gott ist kein Gegenstand, auf den die menschliche Erkenntnis früher oder später durch eigene Anstrengungen geführt werden könnte. Und so ist die Theologie alles andere als eine selbstverständliche oder auch nur naheliegende Möglichkeit des Menschen. Wenn schon sonst gilt, dass alle Orientierungen, die sich der Mensch selbst zu geben vermag, unablässig auch wieder in Zweifel gezogen werden, wie viel mehr hat dies in der Theologie zu gelten, deren Gegenstand ihr noch viel weniger zur Verfügung steht als alle anderen Gegenstände menschlicher Erkenntnis! Es ist gerade nicht so, dass da, wo die menschliche Erkenntnis unweigerlich an ihre Grenze stößt, nun Gott in die Bresche springt. Ganz