Michael Weinrich

Karl Barth


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zu halten, wird von vornherein allem Einmaligen und Besonderen die gerade hier angesprochene besondere Aufmerksamkeit entzogen. Eine solche Lektüre der Bibel wird nicht von wirklicher Neugierde, sondern mehr von dem Interesse an Harmonie und Bestätigung bewegt. Sie gibt sich bereits damit zufrieden, dass aus dem Wald herauskommt, was man in ihn hineinruft. Ohne die erwartungsvolle Offenheit, im biblischen Zeugnis tatsächlich über unsere eigenen Möglichkeiten hinaus geführt zu werden, bleiben die Auslegungen im Horizont der eigenen Voraussetzungen gefangen und konsolidieren auf diese Weise den Ausleger gegenüber dem Text.

      Von Anfang an hat Barth die Alternative von historisch-kritischer Exegese und theologischer Exegese nicht gelten lassen. Es kann nicht infrage gestellt werden, dass wir natürlich die Texte historisch-kritisch zu lesen haben, aber es kommt entscheidend darauf an, was damit gemeint ist. Auch bleibt entschieden einzuräumen, dass es sich bei der Bibel um ein mit allen Mängeln des Menschlichen behaftetes Zeugnis handelt. Es ist durchaus mit Ungenauigkeiten, Irrtümern und tendenziellen Zuspitzungen zu rechnen. Aber die Orientierung am biblischen Zeugnis verlöre jede substanzielle Bedeutung, wollte man annehmen, dass ihr Zeugnis von Gottes Handeln am Menschen so sehr von diesen Mängeln verdeckt sei, dass es nun darauf angewiesen ist, von uns erst hinter den biblischen Texten ausgegraben und zum Leuchten gebracht zu werden.

      Die entscheidende Frage lautet: Ist die historische Kritik der Anwalt des Lesers gegenüber dem Text oder der Anwalt des Textes gegenüber dem Leser. In dieser Alternative kann es nach Barth nur so sein, dass dem Text ein Anwalt zugesprochen werden muss, weil der Leser durchaus sein eigner Anwalt ist. Barth macht darauf aufmerksam, dass ein Text noch nicht verstanden ist, wenn möglichst differenziert die Bedingungen ergründet werden, auf welche Weise er zustande gekommen ist. Es müsse vielmehr ebenso intensiv versucht werden, möglichst klar zu benennen, was er mitteilen will. Die Exegese kommt erst dann an ihr Ziel, wenn es ihr gelingt, mit eigenen Worten das zu sagen, was der jeweilige Autor uns mit seinem Zeugnis eröffnen wollte.

      Dabei bleibt zu beachten, dass es nicht um den Besuch einer alten Pyramide geht, bei dem das aufzuspürende Neue prinzipiell immer nur eine längst versunkende Herrlichkeit der Vergangenheit sein kann. So sehr uns das biblische Zeugnis zweifellos in antiker Gestalt übermittelt ist, so sehr weist es zugleich über die spezifischen Bedingungen seiner Zeit hinaus. Indem es auf die Bezeugung der lebendigen Wirklichkeit des Handelns Gottes ausgerichtet ist, zielt es auf das unvergleichlich Besondere der Lebendigkeit Gottes, das auch heute nur dann angemessen wahrgenommen werden kommen kann, wenn wir uns vom biblischen Zeugnis orientieren lassen. Biblische Hermeneutik im Sinne von Barth ist schlicht und folgenreich die Anstrengung, bei der Auslegung der biblischen Texte möglichst genau in die Blickrichtung des jeweiligen Textes zu sehen in der Erwartung, von dort aus möglichst genau das zu hören zu bekommen, was die Verfasser zur Abfassung ihres Zeugnisses motiviert hat.

      imagesWeitere Entfaltung und Vertiefung dieses Aspektes im Exkurs in Kap. III.3.

      These

      Gott kann nur dann angemessen zum Gegenstand der Erkenntnis werden, wenn er selbst zum Subjekt seiner Erkenntnis wird und unserer diesseitsverschlossenen Erkenntnis gleichsam auf die Sprünge hilft. In diesem Sinne steht die Offenbarung für die fundamentale Verwiesenheit des Menschen auf die Selbstvergegenwärtigung Gottes.

      Der skizzierte Umgang mit dem biblischen Zeugnis bringt eine eigene Erkenntnistheorie mit sich, auf die Barth die Theologie verwiesen sieht, wenn sie sich aufmacht, nicht nur von sich, sondern tatsächlich auch von Gott zu reden. Gott kann kein von der Theologie aufzusuchender Gegenstand sein. Es kann nur anders herum funktionieren: Nur da ist sinnvoll von Gott zu reden, wo man sich selbst von Gott aufgesucht weiß. Der Erkenntnisaktivität des Menschen muss grundsätzlich eine Aktivität Gottes vorausgehen, wenn anders es nichts zu erkennen gibt. Die von der Bibel bezeugte Offenbarung ist nicht nur der Gegenstand der Erkenntnis, sondern eben auch ihr Subjekt. Das ist die grundlegende Voraussetzung und zugleich die entscheidende Verlegenheit jeder theologischen Unternehmung: Gott kann nur da erkannt werden, wo er sich selbst zu erkennen gibt. Rechte Erkenntnis des Offenbarungszeugnisses kann selbst nur ein Resultat von Offenbarung sein. Der Wirklichkeitserweis des Offenbarten kann allein durch die geoffenbarte Wirklichkeit selbst erfolgen und nicht durch die Instrumentarien der uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten.

      Es reicht allerdings nicht aus darauf zu verweisen, dass sich Gott hier und da in der Vergangenheit offenbart habe, zumal sich die Erkenntnis, dass er sich hier und da offenbart habe, nicht an den in Anspruch genommenen Ereignissen evident machen lässt und somit auch nicht argumentativ demonstriert werden kann. Die Evidenz kann sich vielmehr nur durch die im biblischen Zeugnis angesprochene Wirklichkeit Gottes selbst erschließen. Mit der Betonung dieser konsequenten Verwiesenheit auf die freie Selbsterschließung Gottes erinnert Barth an die altkirchliche Einsicht: Gott wird nur durch Gott erkannt (Hilarius von Poitiers). Das sich in seinem Erkenntnisvermögen selbst spiegelnde und unablässig bestätigende neuzeitliche Subjekt wird in der Theologie mit seiner prinzipiellen Grenze konfrontiert. Der mit Hilfe des Denkens vollzogenen Selbstermächtigung des Menschen („Cogito ergo sum“ [„Ich denke, also bin ich“] – Descartes) tritt eine sich selbst behauptende Wirklichkeit entgegen, der gegenüber sich das Denken nur seine Unzulänglichkeit und Zufälligkeit eingestehen kann. Es wird sich hier herausstellen, dass all die für das Denken bemühte Kraft der Kritik vor allem in die Richtung auf die so wichtige Selbstkritik gründlich zu kurz greift. Wenn es um Gott geht, ist es nicht das menschliche Erkenntnisvermögen, das sich spekulativ einen Weg in die Transzendenz hinein verschafft, sondern es findet sich mit der Evidenz eines Wirklichkeitshorizontes konfrontiert, durch den die menschliche Erkenntnis in grundsätzlich andersartige Orientierungsbedingungen versetzt wird.

      Indem durch die Selbstmitteilung Gottes die Wirklichkeit in ein neues Licht gestellt wird, geraten in gewisser Weise alle Erkenntnisse des Menschen in eine neue Perspektive, durch welche Licht und Schatten gegenüber der bisherigen Perspektive eine ganz neue und durchaus überraschende Verteilung erhalten. Die Passivität dieser Erkenntnis wird insbesondere darin deutlich, dass hier der Mensch nicht auswählt und auslegt, sondern sich ausgewählt und ausgelegt entdeckt und findet. Der neuzeitlichen Mentalität, nach welcher es der Mensch ist, der durch seinen Zweifel und sein Denken seinen Wahrnehmungen das zu entlocken versteht, was ihm dann als Wirklichkeit gilt, wird der Wirklichkeitsanspruch Gottes entgegengestellt. Dadurch wird der Mensch in einen Horizont versetzt, der ihn einerseits von den Zermürbungen der unablässigen Wirklichkeitskonstitution entlastet und ihn andererseits in eine Lebensperspektive versetzt, die ihn aus seiner Selbstgefangenschaft befreit und zu einem der lebendigen Zugewandtheit Gottes entsprechenden gemeinschaftlichen Leben ermutigt.

      Das, was für die Reformation die Rechtfertigungslehre war, an der sich alles Weitere für die Theologie entscheidet, ist im 20. Jahrhundert für Barth die Frage nach der angemessenen Erkenntnis der Offenbarung, die er – wie es die Reformation mit der Rechtfertigung des Menschen getan hat – ganz auf die Seite Gottes rückt. Damit erteilt Barth der neuzeitlichen Apologetik der Theologie eine Absage und stellt die Theologie zunächst und betont in den Verantwortungshorizont der Kirche zur kritischen Rechenschaft über das von ihr zu erwartende Zeugnis in Wort und Tat. Mit dieser konsequenten Selbsternüchterung der Theologie und der offensiven Wahrnehmung ihrer tatsächlichen Partikularität ist Barth bis heute