Christian Klicpera

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter


Скачать книгу

normalen Reaktionen auf belastende Lebenssituationen zu unterscheiden.

      Nach DSM-5 kann ein traumatisches Ereignis als eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert werden, wenn die Symptomatik mit Wiedererlebenssymptomen, Vermeidungsverhalten, kognitiven und affektiven Veränderungen sowie Übererregbarkeit einen Monat anhält und auf eine klinisch bedeutsame Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen verursacht (Falkai & Wittchen, 2015).

      Die diagnostischen Kriterien der PTBS nach DSM-5 sind für Erwachsene und auch für Kinder (älter als sechs Jahre) folgende:

      1. Der Betreffende muss einem Ereignis ausgesetzt gewesen sein, das außerhalb der allgemein üblichen Erfahrungen eines Menschen liegt und für fast jeden eine deutliche Belastung darstellt. Dieses Ereignis stellt eine Bedrohung des Lebens oder die Gefahr einer ernsten Verletzung für den Betroffenen oder für andere Menschen dar. Es führt zu intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder (bei Kindern) auch zu agitiertem und desorganisiertem Verhalten.

      2. Der Betroffene hat Schwierigkeiten, von den Ereignissen loszukommen, und erlebt ständig das Wiederauftauchen von Erinnerungen. Das traumatische Ereignis kann auf viele Arten wiedererlebt werden; hier sprechen wir z. B. von Flashbacks (dissoziative Reaktionen) oder von wiederkehrenden Träumen (diese können bei Kindern spezifisch ausgeprägt sein). Bei Kindern können die Erinnerungen an das traumatische Ereignis auch im Spielverhalten zum Ausdruck kommen.

      3. Der Betroffene leidet unter Einschränkungen in seinem Leben, weil er sich bemüht, Situationen zu vermeiden, die diese Erinnerungen wieder hochkommen lassen, oder weil er durch diese Erlebnisse in seiner Empfindungsfähigkeit eingeschränkt bzw. abgestumpft worden ist.

      4. Der Betroffene zeigt negative Kognitionen und Stimmungen, die sich auf folgende Weise zeigen: Unfähigkeit, sich an die wichtigsten Aspekte des Traumas zu erinnern; anhaltende und übertriebene negative Überzeugungen und Zustände (z. B. Scham, Furcht, Wut); Gefühle der Entfremdung und Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden; vermindertes Interesse/Teilnahme an Aktivitäten; Schuldzuschreibungen (sich selbst oder anderen Personen).

      5. Der Betroffene ist nervöser und weniger belastbar geworden, was sich in wenigstens zwei der folgenden Beschwerden zeigt: Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und gesteigerte Schreckreaktionen.

      Im DSM-5 werden neben den genannten Symptomen auch Symptome speziell für Kinder unter sechs Jahren beschrieben. Somit kann im DSM-5 ein Subtyp der PTBS für Vorschulkinder klassifiziert werden. Die Diagnostik ist hierbei stärker am Verhalten der Kinder orientiert und es werden weniger Symptome aus den Bereichen Vermeidung (3) und negative Kognitionen (4) vorausgesetzt.

      Nach einem traumatischen Erlebnis kommt es bei vielen Kindern – v. a. in den ersten Wochen – zu wiederholten lebhaften Erinnerungen an dieses Ereignis, die oft in Ruhephasen, etwa vor dem Einschlafen, auftreten oder durch bestimmte Hinweise in der Umgebung ausgelöst werden. Die Kinder entwickeln deshalb öfter eine Furcht vor der Dunkelheit oder erleben massive Ängste bei der Trennung von den Bezugspersonen. Solche Trennungsängste können sogar noch bei Jugendlichen beobachtet werden. Umgekehrt sind die Kinder im Zusammensein mit den Eltern, aber auch mit Gleichaltrigen reizbarer und werden leichter ärgerlich. Sie verspüren einerseits einen Drang, über diese Ereignisse zu reden, zeigen auf der anderen Seite aber auch Scheu, dies zu tun, u. a. auch deshalb, weil sie etwa die Eltern nicht beunruhigen wollen. Dies führt mitunter dazu, dass die Eltern die starke Belastung ihrer Kinder gar nicht wahrnehmen. Andererseits sind auch Eltern und Freunde zurückhaltend mit Gesprächen über diese Ereignisse, was von den Kindern fälschlicherweise als mangelnde Anteilnahme missverstanden werden kann.

      Das Wiedererleben des Traumas kann sich bei Kindern z. B. in Zeichnungen, Geschichten und im posttraumatischen Spiel zeigen. Das posttraumatische Spiel äußert sich als repetitives und lustloses Spiel, in dem das Kind Aspekte des Traumas immer wieder nachspielt. Ein Kind, das beispielsweise Verbrennungen erlitten hat, könnte seiner Puppe immer wieder Verbandszeug anlegen, in ähnlicher Weise, wie das beim Kind selbst passiert ist. Weitere mögliche Symptome sind Albträume mit unspezifischem Inhalt und sogar Entwicklungsrückschritte, insbesondere im Bereich der Sprache und Sauberkeitserziehung (Falkai & Wittchen, 2015; Rousseau, 2015).

      Viele Kinder leiden unter Beeinträchtigungen ihrer kognitiven Funktionen, v. a. unter Konzentrationsschwierigkeiten und Problemen, sich etwas zu merken. Außerdem sind viele durch Schuldgefühle geplagt und zeigen – v. a. im Jugendalter – depressive Verstimmungen, die manchmal bis zu Suizidversuchen führen können. Des Weiteren können die Kinder auch emotionale und Verhaltensstörungen, ADHS und oppositionelles Verhalten entwickeln (Yule, 1994, 2002; Scheeringa et al., 2003; Scheeringa & Zeanah, 2008; Attanayake et al., 2009; Javanbakht, Rosenberg, Haddad, & Arfken, 2018).

      Nach einer Metaanalyse von Alisic et al. (2014) entwickelten etwa 16 % der Kinder und Jugendlichen nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS. Die Inzidenzraten variieren je nach Art des Traumas. So entwickeln 10 % der Kinder und Jugendlichen nach einem akzidentellen und 25 % nach einem interpersonellen Trauma eine PTBS. Die AutorInnen berichten auch über ein höheres Risiko für die Entwicklung einer PTBS bei Mädchen als bei Jungen (21 % bzw. 11 %) (siehe auch Landolt et al., 2013).

      Obwohl Männer bzw. Jungen mehr Traumata erleben, entwickeln Frauen bzw. Mädchen zweimal so häufig eine PTBS, wobei hier zwischen der Art der traumatischen Ereignisse unterschieden werden muss (Pratchett, Pelcovitz, & Yehuda, 2010; Gavranidou & Rosner, 2003). Mädchen berichten öfter über sexuellen Missbrauch und häusliche Gewalt, wohingegen Jungen häufiger Unfälle, Gewalterfahrungen (außerhäusliche) und Katastrophen nennen (Landolt et al., 2013; Elklit, 2002).

      Die Prävalenz der PTBS hängt zudem von dem Land bzw. der Region, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen, ab. In Regionen mit häufigen Naturkatastrophen und Regionen mit sozialen Konflikten (z. B. Kriege, Straßengangs, Schulschießereien) ist das Risiko für die Kinder und Jugendlichen, eine PTBS zu erwerben, höher (Rosner & Steil, 2013). So haben die USA im Vergleich zu Europa deutlich höhere Prävalenzraten für PTBS bei Kindern und Jugendlichen. Je nach Stichprobe und Erhebungsinstrument bewegen sich diese zwischen 0,25 % und 62 % in den USA (Costello, Erkanli, Fairbank, & Angold, 2002; McLaughlin et al., 2013) und 0,5 % und 1 % in Europa (Falkai & Wittchen, 2015). Bei Kindern mit Fluchterfahrungen liegt die Prävalenz zwischen 19 % und 54 % (Bronstein & Montgomery, 2011). Neben den bereits genannten Faktoren beeinflussen auch getrennt lebende Eltern und ein niedriger sozioökonomischer Status der Familie die Entwicklung einer PTBS (Landolt et al., 2013).

      Nach dem ersten Lebensjahr kann eine PTBS in jedem Alter auftreten. Die Symptome treten normalerweise innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma auf. Im DSM-5 wird auch angegeben, dass es Monate oder sogar Jahre dauern kann, bis die erforderlichen Kriterien für die Diagnose einer PTBS erfüllt sind.

      Nach Andrews et al. (2007) entwickeln ca. 7 % der Personen, die ein traumatisches Ereignis erlebt haben, erst nach symptomfreien Monaten, Jahren und Jahrzehnten eine PTBS. Zu Beginn erfüllt die Reaktion der betroffenen Personen auf das traumatische Ereignis die Kriterien einer Akuten Belastungsstörung. Die eigentlichen PTBS-Symptome, wie Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Übererregbarkeit, kommen erst später hinzu (Falkai & Wittchen, 2015).

      Erfahrungen mit größeren Unglücksfällen haben gezeigt, dass bei solchen Ereignissen etwa die Hälfte der Betroffenen in den ersten Wochen nach dem Ereignis eine PTBS zeigt. Diese bildet sich bei einem Drittel innerhalb eines Jahres wieder zurück. Ein Viertel der Betroffenen leidet jedoch nach mehr als fünf Jahren noch an den Folgen. Erfahrungen haben zudem gezeigt, dass nicht nur große dramatische Ereignisse wie Erdbeben, schwere Unglücksfälle oder Kriegsereignisse (wie etwa der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, derzeit die Kriege im Nahen Osten) zu