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Nachhaltigkeit interdisziplinär


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Kriterien und Indikatoren paraphrasiert werden muss, um tatsächlich als Orientierungskriterium (etwa im Rahmen strategischer Planungen) gelten zu können. Als definierter Indikator ist die Nachhaltigkeit etwa in Form sog. „Formelweiser“ wirksam, die als Hilfsmittel zur Bestimmung bzw. Festlegung von sog. Hiebsätzen (= vorgegebene durchschnittliche jährliche Nutzungsmenge an Holz, bezogen auf 1 ha Waldfläche) im Rahmen der im obligatorischen Zehn-Jahres-Turnus durchgeführten „Forsteinrichtung“ (= Forstplanungsverfahren) berechnet werden – im allerdings denkbar engsten forstlichen Bedeutungsrahmen. Der Hiebsatz als „nachhaltiges Produktionspotenzial“ bei der Waldbewirtschaftung ist, wie oben erwähnt, jedoch nicht das alleinige Kriterium bei der nachhaltigen Bewirtschaftung von Wäldern: Neben der Frage nach Holzmengen und -qualitäten sind z. B. Fragen der Widerstandskraft gegen Schadinsekten („Stabilität“), des Beitrags zum Schutz des Bodens, der Biodiversität oder des Klimas von zentraler Bedeutung und entsprechende Leistungen werden gesellschaftlich stark nachgefragt.

      Dass der Wald sich im Rahmen einer der Nachhaltigkeit (des Holzertrags) verpflichteten, wissenschaftlich bzw. von staatlichen Verwaltungen systematisch betriebenen Forstwirtschaft oftmals ungeplanten Krisen und Kalamitäten ausgesetzt sah, ist gut dokumentiert und oft beschrieben worden. Dass Preußen (vgl. Küster 1998: 185 ff.) in Zeiten großen Holzbedarfs im Deutschland nach dem Wiener Kongress 1815 (und vor der Ära der fossilen Kohle, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Holz und Holzkohle als Energieträger ersetzte) mit großem Aufwand und auf großen Flächen Fichtenaufforstungen anlegte, um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Profit zu erzielen, ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig eine auf einzelne Aspekte gerichtete Waldbewirtschaftung den umfassenden Ansprüchen an den Wald und den vielfältigen ökologischen Risiken gerecht werden kann. Es zeigt, wie seinerzeit unvorhersehbare Entwicklungen erst im Rückblick unsere heutige Einschätzung der „tatsächlichen Nachhaltigkeit“ von Forstwirtschaft bestimmen: Weit verbreitete Bodenversauerungen, Schädlingsbefall, Sturmschäden und enttäuschte Ertragshoffnungen zeugten von Problemen, die im Vorhinein kein Forstplaner im Blick hatte.7 Und noch etwas zeigt sich mit Blick auf die Waldbewirtschaftung im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland: Eine sich dann erst nach den großen Aufforstungswellen entwickelnde, auf größere Arten- und Strukturvielfalt setzende, sich im Rückblick als „stabiler“ und in diesem Sinne „nachhaltiger“ erweisende Forstwirtschaft konnte erst in dem Moment Erfolg haben, als viele Wirtschaftszweige die Rohstoffe des Waldes nicht mehr in der Menge brauchten wie zuvor und als der wirtschaftliche Druck auf die Wälder nachließ (Küster 1998: 195). Hier zeigt sich zugleich das bereits beschriebene Problem der Ungewissheit bzw. der Ignoranz angesichts eines extrem langfristigen Entscheidungshorizonts – das Kriterium bzw. der Anspruch der „Nachhaltigkeit“ soll heutiges Handeln leiten, obwohl die „tatsächliche Nachhaltigkeit“ („Hier wurde nachhaltig/nicht nachhaltig gewirtschaftet“) erst morgen, d. h. in einem Nachhinein von i. d. R. mehr als hundert Jahren beurteilt werden kann (Detten 2013: 54; Detten/Oesten 2013). Da sich über diese Zeiträume hinweg niemals mit Gewissheit sagen lässt, welcher Anteil am zugeschriebenen Erfolg oder Misserfolg der Entwicklungen sich tatsächlich einem plangemäßen forstlichen Handeln zuschreiben lässt bzw. welcher Anteil anderen Einflussvariablen („äußeren Umständen“) zugeschrieben werden muss, sind es allein retrospektive, rückwärtsgerichtete Interpretationen und sinnstiftende Erzählungen, die als nachträgliche Erklärungen für vergangene Vorgänge und Erfahrungen auch für die Zukunft einen handlungsleitenden Referenzcharakter beanspruchen können (siehe dazu Weick 1995: 27 ff.).

      Dass unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten getroffene Entscheidungen auch aufgrund von technologischen Entwicklungen rückblickend als „nicht nachhaltig“ im Sinne der ursprünglich verfolgten erwerbswirtschaftlichen Ziele zu beurteilen sind, kann das von Oesten und Roeder (2012: 149) beschriebene Beispiel der Eichenschälwälder in Mittelbaden zeigen: Mit dem Ziel, Eichenrinde zu gewinnen, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in bäuerlichen Wäldern Mittelbadens mit staatlicher Unterstützung der teure Umbau von Wäldern in Eichenwälder gefördert. Die Entwicklung künstlicher Gerbstoffe und der technologische Fortschritt in der chemischen Industrie ließen allerdings den Markt für Eichenrinde ab ca. 1880 nahezu völlig zusammenbrechen und alle Investitionen, die in Erwartung hoher Erträge in den Waldumbau getätigt wurden, wertlos werden. Eine besondere Pointe hierbei ist es, dass die bis heute weitgehend ertragsschwachen Wälder inzwischen unter Naturschutzgesichtspunkten als sehr wertvoll erachtet werden. Beide unvorhergesehenen Entwicklungen, der Markteinbruch wie die spätere naturschutzfachliche Wertschätzung, konnten nicht vorausgesehen werden und sind prototypische Ereignisse, die die problematische Langfristigkeit der Waldwirtschaft kennzeichnen: Sie machen die Antwort auf die Frage, ob die ursprüngliche Entscheidung für die Eichenschälwälder als „nachhaltig“ oder „nicht-nachhaltig“ zu bewerten ist, zu einer Frage des zeitlichen (und auch inhaltlich-normativen) Standpunkts.

      Im Sinne eines ethischen Postulats formuliert der Nachhaltigkeitsbegriff das Problem der angestrebten zukünftigen Gegenwart8 und bezeichnet einen Anspruch darauf, die forstliche Bewirtschaftung der Wälder an klaren moralischen Prinzipien zu orientieren – die sich in schwacher oder starker Weise formulieren lassen (Ott/Döring 2004). Erneut muss hier jedoch das Nachhaltigkeitsprinzip als ethisches Prinzip durch eine Vielzahl von weiteren ethischen Kriterien oder Prinzipien gestützt werden und etwa auf eine Güterlehre oder eine differenzierte Gerechtigkeitstheorie verweisen (Christen 2008), will es nicht leer oder beliebig werden, sondern in der (forst)politischen Debatte Zustimmung erzielen. Dies geschieht allerdings in forstlichen Debatten so gut wie niemals – die Begründungszusammenhänge werden auch in kontroversen Debatten nicht expliziert, und im Rahmen von Leitbildern oder den seit vielen Jahren obligatorischen Nachhaltigkeitsberichten der Länderforstverwaltungen hat sich die formelhafte Wendung durchgesetzt, dass „ökologische, soziale und ökonomische Ziele im Staatswald gleichrangig umgesetzt“ werden – ein entsprechend „ausgewogenes Kennzahlensystem“ illustriert die Zielerreichung.9

      Jenseits eines konkreten Verwendungskontexts kann man Nachhaltigkeitsdiskurse in einem sehr viel allgemeineren Sinne als Krisendiskurse verstehen,10 die in bestimmten historischen Situationen aktiviert wurden und werden und über die Bewältigungsstrategien in speziellen historischen Konstellationen ausgehandelt oder legitimiert werden sollen. Das Beispiel Carlowitz’ im Rahmen zeitgenössischer Holznot-Debatten11 wurde bereits angesprochen: Zahlreiche Studien haben hier herausgearbeitet, welche wichtige Rolle der Nachhaltigkeitsbegriff in der Forstgeschichte zur Rechtfertigung der Durchsetzung staatlicher und auch privater Ansprüche hinsichtlich der Verfügungsrechte über die Nutzung von Wäldern gespielt hat.

      Ein aktuelles Beispiel für die Schwierigkeit, eine echte „Strategie der Nachhaltigkeit“ als „zukunftsfähig im langfristigen Sinne“ schon vorausschauend zu bestimmen, ist der Umgang mit dem Klimawandel: Dieser wird den Einschätzungen von Forstwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie von Forstpraktikerinnen und -praktikern zufolge als Einschnitt in den bisherigen Umgang mit Wäldern wahrgenommen und es werden allerorten entsprechend deutliche, langfristig wirksame Gegen- bzw. Anpassungsmaßnahmen propagiert. Was genau allerdings solche Anpassungsstrategien erfordert, mit welchen Baumarten und waldbaulichen Verfahren unsere Wälder zu gestalten sind, ist ungewiss und oftmals unter Expertinnen und Experten umstritten. Klima- und Waldwachstumsmodelle gibt es viele – ebenso jedoch gibt es viele Risiken, die mit einer Umsetzung jeder dieser (unterschiedlichen) propagierten Waldumbaustrategien verbunden sind. Zum einen sind da die gewaltigen Kosten eines flächenhaften Umbaus, zum anderen sind mit dem Umbau beträchtliche Risiken (z. B. der tatsächlichen „Klimastabilität“ oder des Ertrags) verbunden – und die Szenarien, mit denen allein man auf ein mit so großen Unsicherheiten behaftetes Phänomen wie das des Klimawandels („Wie entwickeln sich die Wachstumsbedingungen infolge des Klimawandels in den nächsten 100 Jahren?“) reagieren kann, weisen in verschiedene Richtungen, so dass die Risiken des „Weitermachens wie bisher“ auf beträchtliche Risiken einer „falschen Anpassung“ treffen. Auch hier wird sich erst im Nachhinein herausstellen, welche heute getroffenen Maßnahmen sich als tatsächlich „nachhaltig“ im Sinne einer Klimaanpassung erwiesen haben.

      Achtet man einerseits auf die Stellen in Waldnutzungsdebatten, an denen die Leitvorstellung der Nachhaltigkeit wichtig wird, und andererseits auf die spezielle Wirkung, die die Verwendung des