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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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Aufklärungspädagogen wie Pestalozzi ersetzten bzw. ergänzten empirische Beobachtungen die normative Interpretation menschlicher Handlungen und Orientierungen. Ebenso finden sich gemeinsame Wurzeln der Sozialpädagogik mit der modernen Medizin und Psychologie, gegründet in der Suche nach rationalen Erklärungen für menschliches Verhalten als Emanzipation von theologischen oder philosophischen Deutungen (genauer: Schrapper 2016). Neben der Verstehensleistung müssen somit ebenso zu Verhältnissen und Verhalten nachvollziehbare und begründete Hypothesen sozialpädagogischer Fachkräfte erarbeitet werden, die möglichst objektiv (d. h. kriteriengeleitet) und nachvollziehbar bewerten, ob Kinder und Jugendliche ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen haben. In den Erziehungshilfen geht es oftmals um die professionelle Einschätzung von Gefährdungen und Entwicklungspotenzialen, die sich nicht allein auf die Selbstauskünfte und Selbstdeutungen der AdressatInnen sowie deren professionelle Interpretation stützen können.

      Die fallanalytische Aufgabe impliziert somit Fallverstehen und Diagnostik in einem sozialpädagogischen Sinne und ist dabei auf den respektvollen Dialog und die Mitwirkung von Kindern, Eltern und anderen Akteuren in Familie und Umfeld zwingend angewiesen. Und sie vollzieht sich immer in einem dynamischen Beziehungsgeschehen sowie einem institutionellen Kontext; beides wirkmächtige Faktoren, die keine Randerscheinung der Debatte um die angemessenen Konzepte sein dürfen (ausführlich: Ader 2006).

      Im Jahr 2004 haben Heiner/Schrapper den Begriff „Diagnostisches Fallverstehen“ (Heiner/Schrapper 2004) vorgeschlagen, um beiden Dimensionen der zu gestaltenden Aufgabe gerecht zu werden. Mit Blick auf die Anwendung und Etablierung eines entsprechenden Konzepts in der Kinder- und Jugendhilfe scheint dieser jedoch für die Alltagskommunikation der Praxis nicht ausreichend griffig. Wir sprechen derzeit aus den skizzierten Gründen durchgängig von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik, wohl wissend, dass zumindest auf disziplinärer Ebene die Suche nach dem treffendsten Begriff vermutlich noch nicht zu Ende ist.

      In der Einleitung des Buches und dem Fallbeispiel wurde angedeutet, was „ein Fall“ ist, dass er „mehr“ ist als eine Lebens- oder Familiengeschichte, die im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Auf diese Frage wird nun differenzierter eingegangen, da sie entscheidend ist für die in diesem Buch beschriebene Form sozialpädagogischen Verstehens und Diagnostizierens. Es geht um die Frage, worauf sich der professionelle Blick richten muss, also was der Gegenstand der fallanalytischen Arbeit ist.

      Plädoyer für einen erweiterten Fallbegriff

      In der Sozialen Arbeit geht es darum, dass Fachkräfte einen Zugang zu Menschen mit ihren spezifischen Anliegen und Problemen finden, und dies immer in einem institutionellen und organisierten Kontext. Der Begriff des Falls ist dafür gängig (immer noch prägend: Müller 2012). Die theoretische Diskussion um den Fallbegriff, d. h. um die Frage, was denn genau „der Fall“ und damit zu verstehen und zu durchblicken sei, ist in der Sozialen Arbeit ebenso traditionsreich wie strittig (vgl. Lüders 1999; Hanses/Börgartz 2001; im Überblick Ader 2006). In vielen Konzepten der Fallanalyse und Deutung ist der Fall im Wesentlichen markiert durch das sogenannte „KlientInnensystem“, in der Kinder- und Jugendhilfe sind dies Kinder, Jugendliche und ihre Eltern/Familien. Auf sie richten sich die unterschiedlichen Konzepte und Methoden der Analyse. Dieser Fallbegriff ist jedoch u.E. zu eng und letztlich unterkomplex. Sozialpädagogisches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe ist wesentlich durch gesetzliche Aufträge geprägt und immer in organisationale Bezüge eingebunden. Zugleich ist es ein Beziehungsgeschehen zwischen handelnden Menschen. Das, was der Fall ist, konstituiert sich also in einem Dreieck von Biografie, institutionellem Kontext und professionellem Handeln, im Praxisalltag zumeist affektiv hoch aufgeladen (theoretisch hergeleitet: Ader 2006). Letzteres bedeutet, dass in der Interaktion aller AkteurInnen psycho- und interaktionsdynamische Kräfte ebenso nachhaltig wirken wie die Eigendynamiken der beteiligten Organisationen.

      Eine Reihe älterer und neuerer Studien belegen hinlänglich, dass gerade die sogenannten „schwierigen Fälle“ in der Kinder- und Jugendhilfe meist eine ebenso „schwierige Organisationsgeschichte“ aufweisen (z. B. Biesel/Wolff 2013; Ader 2006; Neuberger 2004; Blandow 1997). Das heißt, dass das Handeln der professionellen AkteurInnen und ihrer Organisationen dazu beigetragen hat, dass sich Lebenssituationen von Kindern und Familien mit der professionellen Unterstützung nicht verbessert, sondern verschärft haben, eskaliert sind oder in tragischen Einzelfällen auch zum Tode von Kindern geführt haben – Kinder folglich auch durch das Hilfesystem nicht ausreichend geschützt werden konnten (z. B. Biesel/Wolff 2013; Schrapper 2013b; Fegert u. a. 2010). In diesen Fällen zeigen sich in den Analysen vielfach sehr wirkungsmächtige, aber weitgehend unverstandene Verstrickungen der HelferInnen in ihren Systemen und mit den Systemen der AdressatInnen.

      Fallverstehen und Diagnostik hat sich demzufolge in der Sozialen Arbeit nicht nur auf das KlientInnensystem zu richten, sondern zudem regelhaft auch auf das Hilfesystem, sein Agieren miteinander sowie auf die Dynamiken, die in der Interaktion zwischen dem Hilfe- und dem KlientInnensystem entstehen. Diese Zusammenhänge lassen sich wie in Abbildung 4 darstellen (Abb. 4).

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      Definition: „Fall“ und „Fallverstehen/Diagnostik“

      Der Fall in der Sozialen Arbeit ist also immer eine komplizierte Mischung aus aktueller Situation und Problemlage, komplexen Lebens- und Hilfegeschichten, nicht einfachen administrativen Zuständigkeiten und Regularien – und dies in einem dynamischen, mitunter affektiv hoch aufgeladenen Beziehungsraum. Und bezogen auf dieses komplexe Gefüge ist sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen als ein systematischer, methodisch planvoller Erkenntnis- und Verstehensprozess zu gestalten (zusammenfassend aktuell Ader 2018; Ader/Schrapper 2018). Ziel ist dabei, vielschichtige und immer mehrdeutige Lebenssituationen von Kindern und Familien mit Blick auf das Wohl von Kindern fachlich einzuschätzen. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Bedingungsfaktoren ist dabei konstitutiv (physische, psychische, soziale und materielle Dimension). Und zu diesem Bedingungsgefüge gehört unverzichtbar das Selbstverstehen des Hilfesystems sowie das Verstehen der dynamischen Prozesse und Beziehungsbedeutungen in und zwischen Klienten/Familiensystemen und Helfersystemen (vgl. Stemmer-Lück 2011).

      Im Unterschied zur psychiatrischen Diagnostik ist also der Gegenstandsbereich des zu Verstehenden breiter, es geht um mehr als die Diagnose einer psychischen Störung, und entsprechend muss die Kinder- und Jugendhilfe über ein fachspezifisch eigenes Instrumentarium verfügen, das dieser Komplexität gerecht wird und ggf. anlassbezogen wie begründet die spezifische Expertise der Kinder- und Jugendpsychiatrie einbezieht (Ader 2016). Aus der Gesamtheit der erarbeiteten Erkenntnisse und Hypothesen ergeben sich schließlich die Aufgaben und Zuständigkeiten sozialpädagogischer Fachkräfte zwischen Unterstützung und Eingriff.

      methodisches Rahmenkonzept

      Methodisches Rahmenkonzept: Drei zentrale Fragen und Zugänge zum Fall

      Aus dem beschriebenen Fallbegriff ergeben sich drei grundsätzlich zu bearbeitende Fragen für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe:

      1. Welche Daten und Fakten geben Auskunft über aktuelle familiäre Lebenslagen und hierfür prägende Lebensereignisse? (Fokus: Daten und Fakten)

      2. Wie sehen und verstehen Kinder und Eltern selbst ihre aktuelle Situation und was wünschen und befürchten sie? (Fokus: Selbstdeutungen der AdressatInnen)

      3. Welche Erfahrungen haben Kinder und Eltern bisher mit öffentlicher Hilfe und Einmischung machen können und welche Erfahrungen haben die beteiligten Fachkräfte mit dieser Familie sowie in ihren professionellen Kooperationen im Fall gemacht? (Fokus: Selbstverstehen des Hilfesystems und der dynamischen Prozesse im Fall)

      Die Fragen wiederum markieren bereits, welche Themen und welches Material erschlossen werden müssen, d. h. welche perspektivischen Zugänge zu einem Fall notwendig