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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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junger Menschen.

      Dann geht es um die Eltern, ihre Vorstellungen und ihre Praxis sowie um ihre Rechte und Erwartungen an Unterstützung, aber auch um ihre Pflichten und ggf. um die Zumutung, staatliche Kontrolle zuzulassen.

      Und immer geht es in der Kinder- und Jugendhilfe um „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002), also um die Frage, was muss in öffentlicher Verantwortung getan werden, damit Aufwachsen gelingt. Grundsätzlich können hierfür die drei erwähnten Zugänge unterschieden werden: (1) Infrastruktur gestalten wie z. B. die Ausstattung eines Gemeinwesens mit ausreichenden Angeboten der Kindertageseinrichtungen und der Jugendarbeit, (2) Angebote bereithalten zu spezifischen Themen und für bestimmte Zielgruppen (z. B. Erziehungsberatung und Familienbildung) und (3) für konkrete Kinder und Eltern zuständig werden. Um letztere geht es beim Fallverstehen und der Diagnostik in besonderer Weise, also um konkrete Kinder und Eltern, aber immer in Bezug zu den beiden anderen Zugängen, denn Jugendhilfe „wirkt nur als Ganzes gut“ (Abb. 2). Und auch die Leistungen der Jugendhilfe für konkrete Kinder und Eltern stehen immer im Zusammenhang mit dem, was auch Jugendhilfe für ein gutes Aufwachsen dieser Kinder z. B. schon in Kita oder Jugendarbeit tut. Der dritte Zugang, also zu jungen Menschen und ihren Familien mit Belastungen und in Krisen oder Not, wird üblicherweise im Rahmen der Fallarbeit umgesetzt, in denen schwierige Lebenslagen und Lebenssituationen als Fall konstruiert werden.

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      Der professionelle Nachweis fundierter Urteilsfähigkeit

      Fachkräfte treffen weitreichende Entscheidungen

      Sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind im Rahmen der skizzierten gesetzlichen Aufgaben und Aufträge – gerade in der Einzelfallarbeit – gefordert, Einschätzungen zu treffen, die in mehrfacher Hinsicht folgenreich sind: Sie begründen oder verweigern sozialstaatliche Leistungen, sie ermöglichen Schutz vor Gefahr und Bedrohung oder lösen massive Eingriffe in die Privatsphäre von Menschen aus. Nicht selten sind alle genannten Aspekte sozialpädagogischer Einschätzungen komplex und manchmal auch widersprüchlich miteinander verwoben, auf jeden Fall aber haben die getroffenen Beurteilungen weitreichende Folgen. Der Frage des professionellen Verstehens und der Diagnostik kommt somit in der Fallarbeit eine zentrale Bedeutung zu. Die sozialpädagogische Profession ist in den vergangenen Jahren so häufig wie nie zuvor damit konfrontiert worden, dass ihre Urteilsfähigkeit strafrechtlich überprüft wurde. Im Rahmen der in vielen Professionen üblichen Berufshaftung mussten auch sozialpädagogische Fachkräfte erleben, dass sie für Fehleinschätzungen haftbar gemacht werden können, wenn andere Menschen dadurch zu Schaden oder gar zu Tode kommen.

      fachliche Expertise gefragt

      Die Profession muss sich also dadurch auszeichnen, dass sie auf nachvollziehbaren Wegen und mit fachlich fundierten Methoden zu begründeten Einschätzungen und Bewertungen kommt. Ebenso will und muss sich eine Profession vor allem durch eine exklusive Expertise auszeichnen – nicht jeder soll können, was die Professionellen vermögen. Dieses professionelle Vermögen spitzt sich zu in der Urteilsfähigkeit, die Optionen und Chancen, vor allem aber die Grenzen und Gefahren ihres professionellen Handelns zuverlässig und glaubwürdig einschätzen zu können. Um diesen Nachweis fundierter Urteilsfähigkeit begründet führen zu können, muss die Jugendhilfe über klare und beschreibbare Konzepte verfügen, von denen eines mit diesem Buch vorgestellt wird.

      Der in Kapitel 1 geschilderte Fall macht deutlich, dass für Fachkräfte Sozialer Arbeit eine Vielzahl von Fragen zu bearbeiten sind, um in einem Fall wie z. B. der Familie Kramer zu klären, welche Unterstützung benötigt wird und ob gleichzeitig aus Sicht der Fachkräfte gesichert ist, dass die Kinder maßgeblich durch ihre Eltern ausreichend gut versorgt werden, sowohl real als auch emotional und entwicklungsbezogen. Für die Arbeit mit Familie Kramer ist z. B. zu klären, ob die Großmutter noch ausreichend Kraft dazu hat, die beiden pubertierenden Enkeltöchter zu erziehen, oder ob die Mädchen bei ihrer Mutter wirklich einen Ort finden würden, an dem sie weiter heranwachsen und leben können. Ist die Mutter ausreichend zugewandt, zuverlässig und auch in der Zusammenarbeit mit den Fachkräften kooperativ? Und was brauchen und wollen die Mädchen?

      Fallunabhängig und disziplinbezogen stellen sich hinsichtlich der Einzelfall­arbeit zwei wesentliche Grundfragen, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt. Der Blick wird erstens darauf gerichtet werden, wie sich Erkenntnisgewinn in der Sozialen Arbeit überhaupt vollzieht und welche methodischen Anforderungen sich stellen, und zweitens, was genau der Gegenstand des Erkenntnisprozesses ist. Angesprochen werden dabei zudem einige generelle Fragen methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit.

      Unabhängig von einem spezifischen Konzept für Fallverstehen und Diagnostik geht es bei der Analyse und Erforschung sozialer Phänomene immer um die Erklärung, auf welchen professionellen Wegen neue Einsichten gewonnen und somit erkenntnistheoretische Grundfragen beantwortet werden. Einige Ausführungen zur grundsätzlichen Problematik des Erkenntnisgewinns und der Deutung sozialer Sachverhalte und Prozesse leiten dieses Kapitel ein, sodass besser eingeordnet werden kann, wie das hier vorgestellte Konzept diese grundsätzlichen Fragen berücksichtigt.

      Wahrnehmung folgt unbewussten Routinen

      Menschliche Wahrnehmung folgt im Alltag einem Automatismus. Menschen nehmen – geleitet durch die eigene Aufmerksamkeitsrichtung – in ihrer Umgebung etwas wahr und verbinden damit unbewusst direkt eine Deutung bzw. Bewertung, meist auch ein Gefühl: Eine rote Ampel löst direkt die Bewertung aus, stehenbleiben zu müssen und zu warten. Ein Gefühl von Sicherheit („Ich weiß, was zu tun ist.“) oder von Unmut („Ich werde reglementiert, obwohl die Straße weit und breit leer ist.“) kann damit verbunden sein. Ein unbekannter Mensch betritt den Raum und wird von einem Anwesenden als fremd, aber z. B. zugleich als sympathisch wahrgenommen. Eine Lehrerin sieht im Winter ein Kind mit zu dünner Jacke den Klassenraum betreten und stellt kurz darauf fest, dass es auch kein Frühstück dabei hat. Schnell kommt ihr die Assoziation, dass die Eltern das Kind nicht gut im Blick haben.

      Menschliches Erleben und Verhalten wird somit geleitet von subjektiv geprägten Wahrnehmungen, damit verbundenen Bewertungen sowie Emotionen. Dies ermöglicht Menschen durch entwickelte Routinen, den eigenen Alltag und dessen vielfältige Anforderungen zu bewältigen, Prozesse des Nachdenkens werden abgekürzt. Gleichzeitig aber verengt es den eigenen Blick und klammert insbesondere Deutungen aus, die jenseits der eigenen Wahrnehmungsroutinen liegen. Die eigene Sichtweise wird schnell für die richtige oder einzig denkbare gehalten, weil der Blick nicht systematisch geweitet und bedacht wird, wie ein Phänomen oder ein sozialer Sachverhalt noch interpretiert werden könnte. Professionelles Wahrnehmen und Deuten sowie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn müssen dies jedoch bewusst und für Dritte nachvollziehbar tun, um die Vielfalt an Perspektiven auf eine Situation zu entfalten und sukzessiv Hinweise darauf zu finden, wie etwas fachlich eingeschätzt werden kann und ob diese fachliche Bewertung (verstanden als Hypothese) einer intersubjektiven Überprüfung standhält. Gleichzeitig gilt es, gerade in der Praxis Sozialer Arbeit, für diesen Prozess methodische Wege zu finden, die im Berufsalltag machbar sind und Fachkräfte handlungsfähig sein lassen, insbesondere in Belastungs- und Krisensituationen, in denen Zeit ein wichtiger Faktor ist. Das Grundproblem ist also der Umgang mit Komplexität.

      Grundproblem: Erhöhung und Reduktion von Komplexität

      Wie jeder Prozess empirischen Erkenntnisgewinns, so haben auch Prozesse des Fallverstehens oder der Diagnose ein erkenntnislogisches Grundproblem zu lösen (vgl. hierzu z. B. Wright 2008; Eberhard 1999; Kron 1999; als Einführung: Dewe/Otto 2018).