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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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kann und nicht nur schon Bekanntes bestätigt wird.

      imagesIst auf diese Weise ausreichend Material für erweiternde Erkenntnisse gewonnen, muss der Blick wieder enggeführt werden, um aus der Vielfalt der Wahrnehmungen die für zentral gehaltenen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Gelingt diese Reduktion von Komplexität nicht, so verschwinden mögliche Befunde in einer Vielzahl unverbundener und unverstandener Beobachtungen.

      Dieses Grundproblem (Abb. 3) trifft gleichermaßen für analytisch-quantifizierende wie für hermeneutisch-qualitative Forschungs-, Verstehens- und Diagnoseprozesse zu. Durch geregelte Arbeitsabläufe und rationale Methoden muss in jedem Falle gesichert werden, dass Erkenntnisse systematisch gewonnen und nachvollziehbar begründet herausgearbeitet werden (vgl. einführend: Bock/Miethe 2018; Micheel 2018).

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      Für den Ablauf und die Methodik fallanalytischer Prozesse in der Sozialen Arbeit soll versucht werden, die Bedeutung dieser erkenntnislogischen Problematik und sich daraus ergebende, handlungsbezogene Fragen mit Bezügen zur Fallgeschichte der Familie Kramer anschaulich zu machen.

      der „erste Eindruck“

      Der „erste Eindruck“ lenkt den Blick.

      Problem: einseitige, weil nicht bewusste Fokussierung und Steuerung der Wahrnehmung und Interpretation

      Am Anfang jedes fallanalytischen bzw. diagnostischen Prozesses, wie distanziert der erste Kontakt auch sein mag, steht immer ein erster Eindruck, eine Anfangsidee über mögliche Zusammenhänge und Begründungen. Entscheidend ist, dass solche ersten Eindrücke und Ideen als Ausgangshypothesen bewusst werden, denn sie lassen aufmerksam werden und steuern den Blick der Erkenntnis, repräsentieren aber gleichzeitig auch nur eine Sicht der „Wirklichkeit“.

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      Die ersten Eindrücke im Fall der Familie Kramer lenken den Blick der neu zuständig werdenden Fachkraft sehr auf die Großmutter, die eine sich kümmernde, aber nach dem Tod ihres Mannes doch zunehmend erschöpfter werdende Frau zu sein scheint. Sie tut alles dafür, ihre beiden Enkeltöchter gut aufwachsen zu lassen und die Unzuverlässigkeit der Mutter der Mädchen ausgleichen zu wollen. Die Mutter von Elsa und Maria hat mit Ende 20 die beiden Töchter geboren, die Väter sind zwei unterschiedliche Männer – „und das in kurzem Abstand“. Frau Kramer junior ist psychisch labil, kann die Töchter nach der Trennung von ihren Partnern nicht allein versorgen, die Großmutter springt ein. Die Mutter der beiden Mädchen, „funkt aber immer wieder dazwischen“, lässt die Kinder bei der Oma nicht zur Ruhe kommen. Zwischenzeitlich leben die beiden Mädchen für kurze Zeiten bei ihr, dann aber ist Frau Kramer junior „auch mal wieder einige Wochen in der Psychiatrie“. Die beteiligten PädagogInnen interessieren sich zunächst vor allem für das erzieherische Unvermögen der Kindsmutter und ihre psychischen Ausfälle. Der verstehende Zugang zum Fall und der diagnostische Blick werden gelenkt von der Idee und/oder dem Wunsch, die Großmutter zu stützen und den beiden Mädchen ein „heiles Zuhause“ zu ermöglichen, ihre Mutter möge „doch bloß nicht ständig die jeweiligen Situationen aufmischen“, zumal sie sich gegenüber den Fachkräften und dem Hilfesystem skeptisch bis ablehnend verhält. Die Zusammenarbeit mit ihr ist anstrengend. Diese Eindrücke und Emotionen leiten zunächst das Fallverstehen, ermöglichen Zugänge ebenso wie sie diese verstellen (können).

      Die zu Beginn des Verstehens eher vorbewusste, notwendige und zugleich verengende Fokussierung lässt sich gut an einer möglichen, andersartigen Interpretation des Falles zeigen:

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      Gesehen werden könnte Frau Kramer junior auch als erwachsene Frau, die über die eigene Lebensgeschichte psychisch erkrankt ist, aber versucht, ihre Töchter emotional nicht an deren Großmutter zu verlieren. Ihr Leben war für die Mutter von Elsa und Maria schon immer schwierig. Ihr Vater hat viel getrunken, ihre Eltern hatten oft lauten Streit, manchmal auch körperliche Auseinandersetzungen. Ihre Mutter hat sich dann oft zurückgezogen, war manchmal sogar ein paar Tage weg und hat sich dann nicht um sie gekümmert. Dann war sie mit dem Vater allein, der oft grob war und nicht verstehen konnte, dass sie die Mutter vermisst hat. Essen gab es dann auch nicht regelmäßig. Ihr hat er dann die Schuld gegeben, dass die Eltern sich so oft gestritten haben. Jetzt will sie für ihre Töchter eine gute Mutter sein, aber die eigene Mutter weiß es immer besser, hat es sogar geschafft, dass die Töchter schon seit Jahren bei ihr groß werden. Die Leute vom Jugendamt hat sie auch davon überzeugt, dass das richtig sei. Die Kinder hat man ihr weggenommen, obwohl sie die beiden sehr liebt. Wenn – so die Sicht der Mutter – die Profis doch nur sehen könnten, dass die Großmutter eigentlich Schuld ist an dem ganzen Problem, „weil sie mich als Kind nicht gesehen und manchmal allein gelassen hat. Da musste ich mir eine andere Welt schaffen und jetzt komme ich manchmal nicht klar. Aber zum Glück habe ich meinen neuen Partner kennen gelernt. Mit ihm kann es vielleicht gut gelingen, auch mit den Mädchen. Und manchmal hilft mir ja auch meine Mutter“.

      Auch diese mögliche Lesart des Falls ist zunächst nur eine Perspektive, der die Fachkräfte folgen könnten. Sie zeigt, wie bedeutsam und folgenreich unterschiedliche Wahrnehmungen und eher assoziative Deutungen für die eigene Einschätzung sein können. Die ersten Anfangsvermutungen, ob Frau Kramer junior z. B. als „schlechte, psychisch erkrankte Mutter“ zu sehen ist oder als „am Unvermögen und der Vernachlässigung durch die eigenen Eltern krank gewordene Frau, die in emotional stabilen Phasen alles daransetzt, sich gut um ihre beiden Mädchen zu kümmern“, sagen mehr über die jeweils eigene Sicht der Dinge, jedoch wenig über das tatsächliche Geschehen und noch weniger über mögliche, brauchbare und tragfähige Erklärungen aus. Aber ohne diese Anfangsvermutungen kann – nicht nur in diesem Fall – aus der Vielfalt der Ereignisse und Eindrücke nichts „herausgelesen“ werden. Jede Erkenntnis hat und braucht die den Blick lenkende Steuerung des ersten Eindrucks, die sich in professionellen Zusammenhängen sicher aus der eigenen Aufgabe und dem Auftrag ergibt, aber auch aus dem persönlichen, zunächst meist assoziativen Zugang zu einem sozialen Sachverhalt. Entscheidend ist, sich der Bedeutung und Begrenztheit solcher Ausgangshypothesen bewusst zu werden.

      Komplexität erhöhen

      Den professionellen Blick weiten

      Die Komplexität muss zunächst durch systematische oder explorative Strategien der Informationsbeschaffung erweitert werden (= Öffnung).

      Problem: Kriterien und Verfahren der Datensammlung: Zugänglichkeit, Angemessenheit und Vollständigkeit

      Der zweite Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis besteht darin, von einer möglichst expliziten und reflektierten Eingangsvermutung aus den Blick zu öffnen, um den Gegenstand aus möglichst vielen Perspektiven „neu“ anschauen zu können. Angesichts der prinzipiellen Unendlichkeit möglicher Informationen besteht das zentrale Erkenntnisproblem an dieser Stelle darin, das jeweils richtige Verhältnis von Quantität und Qualität neuer Informationen zu finden: Einerseits sollen so viele neue Informationen wie möglich einbezogen werden, das Bild soll so vollständig und vielfältig wie möglich sein. Andererseits soll gewährleistet werden, dass alle relevanten Informationen auch erfasst und dokumentiert werden können, dass in der möglichen Fülle nichts „Wesentliches“ übersehen wird. Was genau braucht es an Wissen, wie viel und wann ist es genug? Aus der Methodologie wissenschaftlicher Forschung kennen wir unterschiedliche Wege, dieses Dilemma zu lösen.

      imagesSystematisch wissens- und hypothesengeleitete Verfahren versuchen, aus dem verfügbaren Erkenntnisstand der Forschung und Theoriebildung begründete Zusammenhangsvermutungen (Hypothesen) möglichst präzise zu formulieren. Aus diesen Hypothesen sollen dann relevante Untersuchungsmerkmale abgeleitet werden. So wird sichergestellt, dass alle für wesentlich gehaltenen Aspekte