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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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Arbeit besteht also nicht aus „Kochrezepten“, die angewandt werden, sondern aus einem Kanon an Fachwissen, das in strukturell ungewissen Situationen für das Verstehen, Deuten und Intervenieren nachvollziehbar und begründbar eingesetzt werden kann. Nur so können Fachkräfte letztlich der Einzigartigkeit jeder Handlungssituation gerecht werden, was sie gleichzeitig nicht davon entbindet, das eigene Tun theoriebasiert zu erklären und den Einzelfall auch unter dem Aspekt des „Allgemeinen“ (Theoriewissen) einzuordnen.

      Die Kernaufgaben und Arbeitsschritte für eine qualitativ hochwertige Fall­arbeit in der Sozialen Arbeit sind durch die methodischen Schritte planvollen Handelns an verschiedenen Stellen umfangreich beschrieben. Als grundlegendes Werk dazu kann immer noch Burkhard Müllers „Sozialpädagogisches Können“ (Müller 2012) angeführt werden, in dem er die Handlungsphasen der Fallarbeit „Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation“ ausführlich beschreibt. Eine neuere, anschauliche Ergänzung und Differenzierung dazu findet sich bei Haye/Kleve (2002). Der zentrale Schlüsselprozess in jeglicher Fallarbeit ist dabei das Wahrnehmen, Verstehen und Deuten sozialer Situationen. Denn ein Problem, das nicht erkannt und verstanden ist, kann auch nicht gelöst werden.

      Zum besseren Verständnis soll vorab beschrieben werden, wieso in dem hier vorgestellten Konzept von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik gesprochen wird. Andere Begriffe sind im derzeit nach wie vor bunten Diskurs ebenfalls zu finden (Soziale Diagnostik, Soziale Diagnose, Psychosoziale Diagnostik, Sozialpädagogische Diagnose etc.), hier eint Disziplin und Profession die Uneinigkeit bzw. die mangelnde Verständigung auf gemeinsame Begriffe – zu uneindeutig scheint dafür derzeit das Konzert der Konzepte (vgl. Buttner u. a. (Hrsg.) 2018).

      leitendes Begriffsverständnis

      Warum werden in diesem Konzept die Begriffe sozialpädagogisch, Fallverstehen und Diagnostik verwendet?

      Seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das Feld der Jugend­wohlfahrt – heute Kinder- und Jugendhilfe – ein bedeutsames Handlungsfeld der wissenschaftlichen Disziplin Sozialpädagogik und damit in einer Theorietradition der Begründung, Konzeption und Reflexion von Erziehung, (Selbst-)Bildung und Emanzipation im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft verortet (Mollenhauer 1996). Sozialpädagogisches Handeln beruht „auf einer sich verwissenschaftlichenden Jugendkunde bzw. Jugendforschung“ (Braun u. a. 2011, 15) und beschäftigt sich vorrangig mit dem Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sowie der Erziehungstatsache (vgl. Bernfeld 1925/2000).

      Der sozialpädagogische Blick richtet sich dabei vor allem auf die konkreten Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen mit der Frage, was diese – maßgeblich zunächst von ihren Eltern – an Erziehung und Versorgung brauchen, um sich gesund und eigenständig entwickeln zu können. Wesentlich für die Konzeption einer spezifischen Verstehens- und Diagnosetätigkeit ist es daher auch, ihren Gegenstand und ihre Fragestellungen in diesem Kontext zu bestimmen: Zum einen bedeutet dies, in der Fallarbeit der Kinder- und Jugendhilfe die Interessen und Belange von Kindern und Jugendlichen zentral zu setzen. Zum anderen, die verschiedenen Belange von Kindern und Eltern nicht naiv zu begreifen, sondern immer in den Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen und Erwartungen (hier z. B. an ausreichend gute familiäre Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern) einzuordnen.

      die sozialpädagogische Perspektive

      Die disziplinäre Anstrengung zu durchblicken und zu verstehen muss also vor allem auf Prozesse der Versorgung, Erziehung und (Selbst-)Bildung junger Menschen bezogen sein, nicht zuerst auf soziale Probleme Erwachsener oder psychosoziale Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Dies bedeutet nicht, dass z. B. die materiellen Lebensbedingungen oder die psychische Erkrankung eines Elternteils keine wichtigen Bedingungen elterlicher Erziehungsanstrengungen und kindlicher Bildungsprozesse sind, die von Fachkräften Sozialer Arbeit eingeschätzt werden müssen. Geleitet wird ein (sozial-)pädagogisches Fallverstehen und Diagnostizieren allerdings von der Frage nach dem Sinn und der Funktion, die ein als auffällig wahrgenommenes Verhalten in der Lebenspraxis und der Bildungsgeschichte von Kindern und Jugendlichen hat. D.h. Handlungen wie Stehlen, Weglaufen, aggressive Ausbrüche oder Lügen sind zuerst so zu verstehen, dass deutlich wird, welche subjektiv sinnstiftende Funktion diesen Handlungen in der (Über-)Lebensstrategie und im Handlungsrepertoire eines (jungen) Menschen zukommt. Den Eigen-Sinn und die Widersprüche, die Spannungen und Brüche in den Lebens- und Lerngeschichten eines Menschen in ihrem subjektiven Sinn zu entschlüsseln ist der entscheidende Zugang eines explizit sozialpädagogischen Fallverstehens und Diagnostizierens in der Kinder- und Jugendhilfe – anders als es z. B. die Aufgabe einer psychiatrischen Diagnostik ist.

      Und natürlich geht es in diesem Feld und besonders in den Erziehungshilfen neben dem fokussierten Blick auf junge Menschen immer auch um familiäre Lebenslagen und die Frage, wie Eltern die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder ausreichend gewährleisten können. Dabei steht eben nicht die Feststellung und Klassifikation elterlicher Störungen im Mittelpunkt. Das Handeln und die Vorstellungen von Eltern sind hinsichtlich der dahinterliegenden Erfahrungen und verinnerlichten Handlungsmuster zu verstehen, wenn auch hier die Frage nach einer ausreichenden Sorge für ihre Kinder immer parallel und im Zweifelsfall vorrangig im Blick bleiben muss.

      Pädagogische Prozesse der Veränderung und (Bildungs-)Unterstützung für Kinder und Familien können letztlich nur an den Selbstbildern, Selbsterklärungsideen und Selbstbildungskräften der AdressatInnen ansetzen. Pädagogisch wird Veränderung begriffen als ein in den Erziehungshilfen oftmals zu unterstützender Lernprozess, sich andere, möglichst sozial akzeptierte Vorstellungen von „Selbst und Welt“ aneignen zu können. Allerdings müssen auch PädagogInnen hierbei die Un-Normalität kindlicher Orientierungen oder die Risiken elterlicher Handlungen fundiert bewerten und normative Anforderungen formulieren können. In dem Zusammenhang werden die Differenz und Zusammengehörigkeit von Fallverstehen einerseits und sozialpädagogischer Diagnostik andererseits deutlich. Sie sind gewissermaßen „zwei Seiten einer Medaille“, in methodischem Zugang und Erkenntnis unterschiedlich und zugleich zwingend aufeinander bezogen:

      Fallverstehen …

      Zum einen ist die fallanalytische Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe eine Verstehensleistung, hier bezeichnet als Fallverstehen und erkenntnistheoretisch einzuordnen in die lange Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik (z. B. Mollenhauer/Uhlendorff 1992; Oevermann 2000). Mit dem Konzept der stellvertretenden Deutung (vgl. Oevermann 2000) und der Figur der immanenten Kunstlehre des Fallverstehens (vgl. Gildemeister 1992) wurden zentrale Orientierungspunkte für die Entwicklung einer professionellen Deutungskompetenz theoretisch markiert. Die Gleichzeitigkeit von Theorieverstehen und Fallverstehen ist nach Gildemeister dabei grundlegend für die professionelle Logik, wobei die Kunstlehre des Fallverstehens in einem langdauernden Prozess professioneller Sozialisation eingeübt wird und in einem spezifischen professionellen Habitus mündet.

      In dieser Linie hermeneutischer Erkenntnisprozesse stehend, bedarf es für das konkrete Fallverstehen einer wissensbasierten, reflexiv geschulten wie auch mitmenschlichen Anstrengung, einfühlend nachzuvollziehen, wie sich Not und Bedrängnis für Menschen anfühlen und welche innere Logik sie antreibt. Dabei muss das (stellvertretend) in Sprache gefasst werden können, was Menschen selbst bislang unzugänglich oder unsagbar war. In diesem nur gemeinsam möglichen dialogischen Prozess gilt es, sich emotional anzunähern, manchmal auch zu verwickeln, und doch fremd zu bleiben bzw. immer wieder in Distanz zu gehen, um nicht unreflektiert in den familiären Dynamiken verstrickt zu bleiben. Bei dieser Aufgabe kann es nicht um eine schlichte Zuordnung von Verhalten zu allgemeingültigen Erklärungsmustern gehen. Kinder und Eltern mit dem Blick auf die subjektive Bedeutung ihres Verhaltens, ihrer Symptome und ihrer Begrenzungen im Kontext ihres sozialen Gewordenseins zu verstehen, ist etwas anderes, als sie z. B. einem Bindungsmuster zuzuordnen in der Hoffnung, daraus ergäbe sich eine klare Interventionsstrategie (Brandl 2016).

      … und sozialpädagogische Diagnostik

      Zum anderen bezeichnen wir mit dem Begriff der Diagnostik die ebenfalls notwendige analytische und durchblickende Anstrengung, die Dinge „beim Namen zu nennen“. Hier geht es vor allem um die Zuordnung zu einem anerkannten Allgemeinen (Müller 2012), für das Beschreibungs- und Erklärungswissen sowie geklärte