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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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einen Fall verstehen?

      Verständnis und Durchblick sind in diesem Zusammenhang für die Sozialarbeiterin eines zuständigen Jugendamtes allerdings kein Selbstzweck, sondern sollen auftragsgemäßes Handeln nachvollziehbar begründen und anleiten, also Entscheidungen über Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – hier für Elsa, Maria, ihre Großmutter und ggf. weitere Familienmitglieder – vorbereiten. Zu den gesetzlichen Aufträgen der Kinder- und Jugendhilfe gehört es auch, nicht nur nach geeigneter und annehmbarer Unterstützung und Hilfe zu suchen, sondern zu prüfen, ob zum Schutz vor Gefahren für das Wohl eines konkreten Kindes auch gegen den Willen der Eltern eingegriffen werden muss – hier z. B. ob von den dem Vormund unbekannten Aufenthalten zwischen den Haushalten der Großmutter und der Mutter akute Gefährdungen ausgehen und ob gegen den Willen der sorgeberechtigen Mutter eine stationäre Unterbringung erforderlich wird. Wie alle mit Zwang verbundenen Handlungen sind solche Eingriffe in das „natürliche Recht der Eltern“ (Artikel 6 GG) besonders streng zu prüfen und besonders fundiert zu begründen. Auch dies ist eine Aufgabe für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe.

      Zusammenfassung

      1. Verstanden werden wollen Kinder und Eltern als konkrete und lebendige Menschen mit ihren Erfahrungen und Lebensumständen, Erwartungen und Interessen.

      2. Ebenso verstanden werden müssen die komplexen und oft komplizierten Aufgaben und Aufträge der Kinder- und Jugendhilfe sowie ihre Arbeitsweisen und Organisationsformen in den Auswirkungen auf die konkreten Menschen und Situationen.

      3. Und nicht zuletzt müssen sich die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer beruflichen Rolle und Kompetenz verstehen und dabei ihre persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen über Kindheit und Elternschaft, damit verbundene Rechte und Pflichten sowie ihre Stärken und Schwächen in Zugang und Kommunikation in den Blick nehmen.

      Warum und wozu Eltern und Kinder verstehen? Rahmen und Auftrag für Fallverstehen und die Diagnostik der Kinder- und Jugendhilfe

      Fremdverstehen und Selbstverstehen

      Fallverstehen und Diagnostik werden in diesem Buch als ein umfassendes Konzept vorgestellt, das die sachliche Analyse erkennbarer Fakten ebenso umfasst wie das Nachvollziehen und Einfühlen-Können in emotionale Verfassungen und Prägungen. Es geht also um ein Konzept, das den Blick auf andere, hier vor allem Kinder und Eltern, auf ihre Lebensumstände, Interessen und Bedürfnisse ebenso beinhaltet wie den Blick auf die eigene Person als Fachkraft und als Mitarbeitende in einer Organisation. Es geht um Fremdverstehen ebenso wie um Selbstverstehen, denn nur aus beiden Perspektiven zusammen zeigt sich, was konkret der Fall ist, und was in diesem Fall von einer konkreten Fachkraft getan werden kann bzw. muss und was besser nicht.

      Bevor in Kapitel 2 diese Konzeption von Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe differenziert vorgestellt wird, soll hier vorab eine zentrale Voraussetzung dafür erläutert werden: Warum überhaupt sollen und wollen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe Eltern und Kinder verstehen?

      Der Rahmen ...

      Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe haben in ihren institutionellen Arbeitszusammenhängen und fachlichen Kooperationen drei große Aufgaben:

      imagesZunächst müssen sie Infrastruktur gestalten, also Angebote und Einrichtungen z. B. der Jugendarbeit und Kindertagesbetreuung oder für Familienbildung und Beratung so entwickeln und betreiben, dass ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002; Schrapper 2013a) für alle Kinder eines Gemeinwesens gelingen kann.

      imagesDann müssen die Fachkräfte die Ansprüche von Eltern und Kindern auf konkrete Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz prüfen, konkretisieren und entscheiden. Bei diesen individuellen Leistungsansprüchen geht es vor allem um die „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 27 ff. SGB VIII) und die Eingliederungshilfen für junge Menschen mit „seelischen Behinderungen“ (§ 35a SGB VIII).

      imagesUnd nicht zuletzt müssen sie Schutz für Kinder gewährleisten und hierfür ggf. notwendige Eingriffe begründen und vor dem Familiengericht durchsetzen.

      Für die Aufgaben der Gestaltung einer förderlichen Infrastruktur sind differenzierte Kenntnisse der Lebenslagen sowie der Bildungs- und Freizeitbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen (Jugendarbeit) oder der Unterstützungsbedürfnisse von Familien (Kindertagesbetreuung) erforderlich. Schon dafür sind zusammenfassende Analysen konkreter Lebensverhältnisse in Wohnquartieren und für Zielgruppen junger Menschen und ihrer Familien – z. B. Familien mit einem Elternteil, junge Menschen aus Migrationsfamilien –erforderlich, damit Angebote und Leistungen sich gut auf spezielle Interessen, Erfordernisse und Bedingungen einstellen können.

      Für die Aufgaben der individuellen Leistungsprüfung ebenso wie für die Gewährleistung von Schutz müssen sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zudem intensiv mit der konkreten Lebenssituation, den Anliegen und Interessen sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Hilfe und ggf. auch Eingriff befassen.

      ... und der Auftrag

      Diese Kernaufgaben erfordern eine fundierte sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen und sind wesentliches Element der sozialpädagogischen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie beziehen sich immer auf eine besondere Konstellation von Rechten und Pflichten im Dreieck Kind/Jugendlicher – Eltern – Staat.

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      In dem skizzierten Dreiecksverhältnis (Abb. 1) haben Kinder nur Rechte: das Recht auf Achtung ihrer Würde, das Recht auf Entfaltung und Entwicklung, das Recht auf Leben und Unversehrtheit und vor allen Dingen auch das Recht auf Eltern, die gut für sie sorgen (vgl. Britz 2015). Dies ist die Vorstellung unseres Grundgesetzes, und demnach ist es zu kurz gedacht, das Verhältnis von Kinderrecht und Elternrecht alleine auf den Artikel 6 GG (Erziehung und Versorgung sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht) zu beziehen. Erst die Artikel 1 (unveräußerliche Würde), Artikel 2 (freie Entfaltung und Entwicklung jedes Menschen) und Artikel 6 zusammen ergeben ein Gesamtbild von Rechten und Pflichten für ein gelingendes Aufwachsen in der Verantwortung von Eltern und staatlicher Gemeinschaft.

      Elternrechte und -pflichten

      Eltern haben Rechte und Pflichten. Sie haben ebenso wie die Kinder das Recht auf Achtung ihrer Würde und auf Entfaltung, vor allem auf Respekt vor ihrem Lebensentwurf, Eltern zu sein, Familie zu gestalten und Kinder großzuziehen. Und das Recht auf förderliche gesellschaftliche Bedingungen wie zum Beispiel Kindertagesbetreuung. Eltern haben außerdem ein Recht auf individuelle Unterstützung, wenn sie es für erforderlich halten und wenn es nötig ist. Sie haben auf der anderen Seite die Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Das ist die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Und sie müssen sich gefallen lassen, dass die staatliche Gemeinschaft darüber wacht, dass es ihren Kindern gut geht.

      Pflichten des Staates

      Der Staat hat nur Pflichten – um in diesem schlichten Bild zu bleiben. SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen sind dabei nicht alleine für die Pflichterfüllung einer wachsamen staatlichen Gemeinschaft zuständig, aber sie sind in der Kinder- und Jugendhilfe an zentraler Stelle mit verantwortlich.

      Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung

      Mit Blick auf Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungen geht es zuerst um individuell zu unterstützende Prozesse von Erziehung und Bildung – also darum, welche Bilder sich Kinder von sich selbst und von der Welt aneignen konnten bzw. ihnen von Erwachsenen vermittelt wurden. Denn diese Konstrukte von Selbst (Identität) und Welt sind zentrale Anknüpfungspunkte