das Ziel. Strukturierte Anamnesebögen, differenzierte Diagnoseraster (z. B. Bayrisches Landesjugendamt (Hrsg.) 2013, 2001) und Kategoriensysteme (z. B. das psychiatrische Diagnosesystem ICD 10, engl. = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; wichtigstes, weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen) oder standardisierte psychologische Testverfahren sind die gängigen Instrumente dieser Strategie. Das Vorgehen ist eher deduktiv. Die Stärke dieser Strategie in der fallanalytischen Praxis ist der strukturierte und gezielt eingegrenzte Blick auf das, was für wesentlich gehalten wird. Dies ist gleichzeitig die Schwäche, wenn erstens der Stand der Theoriebildung keine sicheren Aussagen über das, was wesentlich ist, zulässt, und zweitens die Einmaligkeit und Komplexität eines sozialen Phänomens kategorial immer nur begrenzt erfasst werden kann. Wie oben gezeigt, ist gerade diese Unbestimmtheit und Ungewissheit ein bedeutsames Merkmal der Lebenssituationen, mit denen Soziale Arbeit und Jugendhilfe befasst sind.
Beide Strategien haben für die Aufgaben sozialpädagogischen Fallverstehens also zweifellos Stärken, zeigen aber auch deutliche Schwächen und es scheint so, als seien diese reziprok, die Stärke der ersten, die systematisch begründete Konzentration auf das Wesentliche, ist die Schwäche der Zweiten und umgekehrt. Am Fall der Familie Kramer wird deutlich, wie begrenzt jede der vorgenannten Erhebungs- und Suchstrategien für ein sozialpädagogisches Fallverstehen ist:
Im eingangs geschilderten Fall verspricht erst eine Kombination und Ergänzung beider Erhebungsstrategien eine weiterführende Erkenntnis; es geht um analytisches Durchblicken und systematisches Dokumentieren ebenso wie um offenes und einfühlendes Verstehen.
Komplexität reduzieren
Den Blick fokussieren
Nach der Perspektiverweiterung muss die entfaltete Komplexität durch Verteilungsparameter, Klassifikation/Typologie, Rekonstruktion von Mustern etc. wieder auf ein bearbeitbares, handlungsorientiertes Maß reduziert werden (= Schließung).
Problem: Rationalität und Legitimität der Verfahren zur Informationsverdichtung
In der nächsten Arbeitsphase jedes Forschungs- und Diagnoseprozesses geht es darum, die eröffnete Vielschichtigkeit und Komplexität wieder auf ein überschaubares und handlungsorientiertes Maß zu reduzieren. Die erweiterten Kenntnisse und Einblicke aus Informationen und Daten, wie sie durch Erhebungslisten, Untersuchungen, Befragungen, Interviews oder Gesprächen gewonnen wurden, müssen wieder „sinnvoll“ verdichtet werden. Auch für diesen Schritt des Erkenntnisgewinns stehen je nach Datenlage unterschiedliche Verfahren und Methoden zur Auswahl:
In der medizinisch-psychiatrischen und z. T. auch psychologischen Diagnostik werden eher die ersten beiden Strategien verwandt, in anderen Richtungen der Psychologie und auch in der psychoanalytischen sowie (sozial-)pädagogischen Deutung wird den qualitativen Strategien mehr zugetraut. Jede diese Strategien zur Reduktion von Komplexität hat ihre Vor- und Nachteile, alle führen zu Verkürzungen und bilden die zuvor noch möglichst vielfältig erfasste Wirklichkeit nur begrenzt ab. Aber genau das ist ihre Aufgabe, ohne eine Verdichtung und Verkürzung auf „das Wesentliche“ verstellt die Vielzahl der Informationen den Blick oder das gewonnene Wissen bleibt additiv nebeneinander stehen.
Eine Schwäche sozialpädagogischer Deutungsprozesse ist nicht selten, dass für diese unumgängliche Arbeitsphase der Zusammenfassung und Interpretation zuvor gesammelter Informationen und Einschätzungen keine ausreichend gesicherten und anerkannten Verfahren genutzt werden. So kann der Eindruck entstehen, die Zusammenfassung und Deutung seien zufällig und subjektiv. In Beratungen und Fallbesprechungen ist z. B. häufiger zu erleben, dass sozialpädagogische Fachkräfte in unsicheren Deutungssituationen dazu neigen, die Komplexität wieder vervielfältigen zu wollen. Wenn die Einschätzung einer Familie oder der Lebenssituation eines Kindes auf eine zusammenfassende Deutung drängt, man sich aber unsicher ist, tauchen häufiger solche Fragen auf: „Haben wir denn schon genug gesehen, haben wir schon alles erfragt, was wichtig sein könnte, müssen wir uns nicht noch mehr Informationen beschaffen?“ So richtig es sein kann, in der Deutung und Interpretation auf bisher nicht gestellte Fragen zu stoßen, für deren Beantwortung mehr und neue Informationen gebraucht werden, so falsch ist es, sich auf diese Weise vor einer ggf. folgenreichen Deutung und der damit einhergehenden professionellen Verantwortlichkeit „zu drücken“.
Deutlich wird, dass eine umfangreiche Informationssammlung allein noch keine fallverstehende bzw. diagnostische Erkenntnis ist, auch wenn diese durchaus darin „verborgen“ sein kann. Erst durch Zusammenfassung, das Herstellen von Zusammenhängen und durch Interpretation werden aus gesammelten Informationen neue Erkenntnisse oder Diagnosen. Wie in den jeweiligen Forschungs- oder Diagnosestrategien diese Reduktion von Komplexität methodisch bearbeitet und auf welche theoretischen Konzepte für die Erklärung von Zusammenhängen dabei zurückgegriffen wird, ist daher ebenso entscheidend für die Qualität und praktische Brauchbarkeit der Verfahren wie die Vielfalt der erhobenen Informationen und die konkret genutzten Instrumente. Nur Informationen, die auch gedeutet werden, können verstanden werden und somit zur Erkenntnis und Hypothesenbildung beitragen.
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