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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe


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Veränderung insbesondere mit Blick auf die Kinder zu ermöglichen.

      Schlüsselprozess Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII

      Ein Schlüsselprozess der Hilfeplanung ist somit das Fallverstehen und die sozialpädagogische Diagnostik. Wie aber kommen Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu professionell begründeten Einschätzungen, Hypothesen und Bewertungen – gerade in Fällen, in denen eskalierende Krisen die aktuelle Situation bestimmen und sich Fragen des Kinderschutzes stellen?

      Das Nachdenken über „soziale Diagnostik“ geht zurück auf Mary Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beschäftigte die Soziale Arbeit in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder (mit wechselvoller Geschichte; Kap. 6) und ist Anfang des 21. Jahrhunderts wieder hochaktuell. Gerade mit dem Inkrafttreten des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) im Jahr 2005 hat die schon immer bestehende Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, das Wohl von Kindern zu schützen und sie vor Schaden zu bewahren, neue Qualität und Aufmerksamkeit gewonnen. Auslöser für diese und nachfolgende gesetzliche Veränderungen (z. B. für das Bundeskinderschutzgesetz 2012) waren nicht zuletzt Kinderschutzfälle, in denen Kinder durch das Handeln ihrer Eltern zu Schaden oder in Einzelfällen auch zu Tode gekommen sind (Schrapper 2015a). Der darüber geführte Fachdiskurs in Praxis und Theorie hat maßgeblich befördert, dass Fragen des fachlichen Verstehens und der professionsbezogenen Diagnostik zentral geworden sind und eine Vielzahl von Konzepten und Instrumenten aktuell die Arbeit in der Praxis der erzieherischen Hilfen prägt. Sie spannen sich auf zwischen den Polen Rekonstruieren und Klassifizieren, Verstehen und Erklären, Subjektivität und Objektivität (Kap. 6).

      Wieso dieses Buch?

      Über die Frage, wie professionelle Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, zu ihren fachlichen Einschätzungen kommen, ist also in den 2000er/2010er Jahren (wieder) intensiv debattiert worden. Der vielfältige Diskurs ist für Außenstehende manchmal schwer zu überblicken und so ist die Frage berechtigt, wieso noch ein Buch zu diesem Thema als notwendig erachtet wird.

      In der beachtlichen Vielzahl von Publikationen zum Thema (zusammenfassend zuletzt Buttner/Gahleitner u. a. 2018) fehlt bisher eine komprimierte, theorie- wie praxisbezogene Publikation für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe, die ebenso für die Ausbildung von Studierenden der Sozialen Arbeit sowie als Hintergrund für die Qualifizierung der Praxis genutzt werden kann. Diese Lücke soll mit der vorgelegten Veröffentlichung geschlossen werden, wohl wissend, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor an einem professionsspezifischen Kernkonzept mangelt, an das spezifischere diagnostische Aufgaben und entsprechende Konzepte (z. B. der individuellen Entwicklungsdiagnostik für ein Kind) anschließen können. Möglicherweise wird dies auch eine Wunschvorstellung bleiben, da es keinen anerkannten Ort der Verständigung und professionseigenen Meinungsbildung in der Sozialen Arbeit bzw. der Kinder- und Jugendhilfe gibt und ggf. auch nicht geben kann. Denn sozialpädagogische Methodenentwicklung war in ihrer Geschichte immer eklektisch – trug und trägt Unterschiedliches begründet zusammen, verbindet und nutzt, was hilfreich erscheint (dazu anschaulich Müller 2013).

      Notwendige Weiterentwicklungen sollen in diesem Zusammenhang am Ende dieses Bandes in den Blick genommen werden. Zunächst soll zur Verdeutlichung des hier entfalteten Ansatzes einführend skizziert werden, was die zentrale Aufgabe von Fachkräften in der einzelfallorientierten Kinder- und Jugendhilfe ist.

      Fälle bearbeiten als zentrale Aufgabe

      Fälle zu bearbeiten ist die wesentliche Aufgabe und Tätigkeit derjenigen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, die vor allem mit den sogenannten Hilfen zur Erziehung und Fragen des Kinderschutzes befasst sind, die also in den Sozialen Diensten der Jugendämter arbeiten (im Allgemeinen Sozialen Dienst oder den Pflegekinderdiensten) oder in ambulanten Diensten wie der sozialpädagogischen Familienhilfe oder in Heimen tätig sind. Aber auch in anderen Feldern wie der Jugendhilfe im Strafverfahren (ehemals Jugendgerichtshilfe), in Beratungsdiensten, der Jugendberufshilfe etc. geht es oftmals darum.

      Fälle, so unser fachliches Verständnis, sind ein komplexes und kompliziertes Bedingungsgefüge: einerseits immer geprägt durch eine aktuelle, meist akute Problemlage, in der seitens der Fachkräfte ebenso Anliegen und Anfragen aufzunehmen sind, wie Zuständigkeiten zu klären und Zugänge zu finden. Andererseits verweisen schon erste Gespräche, Informationen und Eindrücke auf Vorgeschichten und Hintergründe, sowohl in den Lebensgeschichten von Kindern oder Jugendlichen als auch von ihren Müttern und Vätern bzw. Bezugspersonen. Und sie verweisen auf Vorgeschichten und Erfahrungen mit der Notwendigkeit, sich helfen lassen zu müssen, unterstützt zu werden und/oder Eingriffe in das familiäre Leben zulassen zu müssen.

      Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich auch dadurch aus, dass sowohl konkret als auch grundlegend Entscheidungen getroffen und begründet werden müssen, die meist tief in das Leben der AdressatInnen eingreifen. Entschieden werden muss über Leistungsansprüche, über die konkrete Gestaltung von Unterstützung, aber auch über Eingriffe in elterliche Rechte, wenn dies zum Schutz ihrer Kinder erforderlich erscheint. Damit sind diese Entscheidungen über Hilfeangebote ebenso wie über Eingriff und Kontrolle zumeist weit über den Augenblick hinaus folgenreich für Entwicklungschancen und Lebensperspektiven der betroffenen jungen Menschen.

      hochkomplexe Fallkonstellationen als Gegenstand

      Hochkomplexe Fallkonstellationen entscheidungsorientiert zu bearbeiten, auf diese spezifische Herausforderung nicht aller, aber vieler Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ist unser Konzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik ausgerichtet. Konzeptionell und methodisch werden dabei, im Unterschied zu anderen vorliegenden Ansätzen, die institutionelle Eingebundenheit und organisatorische Verfassung Sozialer Arbeit sowie die Beziehungsdimension sozialpädagogischen Handelns bewusst mitgedacht und methodisch berücksichtigt. Grundsätzlich gehen wir dabei theoretisch davon aus,

      imagesdass es die Diagnostik für die Soziale Arbeit nicht geben kann und wird,

      imagesdass es übergreifende, disziplinäre Gütekriterien für die Prozesse des Verstehens und Diagnostizierens geben sollte (vgl. Heiner 2001),

      imagesdass handlungsfeldspezifische und kontextbezogene Konzepte sowie methodische Instrumente benötigt werden, wobei letztere in unterschiedlichen Handlungsfeldern Anwendung finden können.

      konkreter Fall als zentraler Bezugspunkt

      Wir haben uns entschieden, das Buch induktiv anzulegen, vom Konkreten zum Allgemeinen. Aus diesem Grund wird im ersten Kapitel ein konkreter Fall vorgestellt, in dem es um eine Familie in einer Krisensituation geht und sich die Frage stellt, ob die Kinder dort ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen und ihren Entwicklungsprozess haben oder ob das Kindeswohl gefährdet ist und Fragen des Kinderschutzes in den Mittelpunkt der Fallbearbeitung rücken müssen. Genau dies ist, in unterschiedlichen fallspezifischen Variationen, immer der Ausgangspunkt für die Arbeit von Fachkräften, wenn es um Einzelfälle in der Kinder- und Jugendhilfe geht, insbesondere in den erzieherischen Hilfen. Auf den dargestellten Fall wird an verschiedenen Stellen des Buches Bezug genommen, insbesondere in Kapitel 3, in dem wir eine sozialpädagogische Diagnostik im Sinne von Hypothesenbildung zum Fall Schritt für Schritt methodisch entwickeln.

      grundlegende Fragen des Erkenntnisgewinns

      Im Anschluss an die fallbezogene Darstellung rückt Kapitel 2 zunächst zwei grundlegende Fragen fallanalytischer Prozesse in den Fokus. Zum einen geht es darum, wie der Verlauf der professionellen Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Sozialen Arbeit generell erfolgt. Zum zweiten geht es neben diesen erkenntnistheoretischen Grundfragen um gegenstandsbezogene Überlegungen. Das heißt, es gilt