(Babbe 2011)
Bilderbenennverfahren, die einen phonologisch-orientierten Ansatz der Überprüfung der Aussprache verfolgen, wurden mit Beginn der 1990er Jahre in Deutschland veröffentlicht. Diese Verfahren wurden oft mehrfach überarbeitet. Nur eines dieser Verfahren wurde normiert (PLAKSS-I, Fox 2002 bzw. PLAKSS-II Fox-Boyer 2014a).
3.5 Überprüfung der Inkonsequenzrate
Die Überprüfung der Inkonsequenzrate dient zur differenzialdiagnostischen Trennung von konsequenter und inkonsequenter phonologischer Störung. Hierbei wird ein Kind gebeten, innerhalb einer Sitzung die gleichen 25 bis 30 Wörter dreimal zu benennen. Ein Inkonsequenztest sollte so konstruiert sein, dass er sowohl ein-, zwei-, drei- und wenn möglich viersilbige mono-morphematisch Wörter in ähnlicher Anzahl beinhaltet. Auch sollten die Wörter unterschiedlicher phonologischer Komplexität sein. Dodd (1995) veröffentlichte den ersten Inkonsequenztest für das Englische. Für die deutsche Sprache liegt ein Inkonsequenztest von Fox-Boyer (PLAKSS-II, Fox-Boyer 2014a) vor. Bei Kindern mit einem unzureichend großen expressiven Wortschatz kann die Inkonsequenzrate mithilfe eines individuell gestalteten Prüfmaterials stattfinden, um eine standardisierte Überprüfung der Inkonsequenz durchzuführen. In diesem Fall werden die Eltern des Kindes gebeten, ein Wortschatztagebuch zu erstellen. Auf der Basis dieses Wortschatztagebuchs erstellt der Therapeut einen für das Kind angepassten Inkonsequenztest und bittet das Kind, diese Wörter innerhalb einer Therapiesitzung mehrfach (mindestens dreimal) zu benennen. Beide Vorgehen sollten innerhalb einer Therapiesitzung durchgeführt werden, damit die Tagesperformance des Kindes das Ergebnis nicht beeinflusst.
3.6 Überprüfung der Verständlichkeit
Die Sprechverständlichkeit stellt einen der einflussreichsten Faktoren in Bezug auf die Beeinträchtigung der kommunikativen Partizipation von Kindern in den unterschiedlichsten Lebensumfeldern dar (McLeod 2015). Zudem konnten Hellström und Lundberg (2014) zeigen, dass die Einstellung der Kinder zu ihrem eigenen Sprechen mit ihrer Verständlichkeit korreliert.
Die Überprüfung der Verständlichkeit ist international eine verbreitete Methode in der sprachtherapeutischen Diagnostik. Dabei variieren die Ansätze jedoch in ihrer Komplexität und Länge von Ein-Wort-Überprüfungen zu Einschätzungen zusammenhängender Rede und Rating-Skalen unterschiedlicher Art (Flipsen 2006). Miller (2013) empfiehlt für die sprachtherapeutische Praxis eine Kombination aus quantitativen Messungen (z. B. Errechnung der korrekt produzierten Konsonanten / PCC) und eher realistische Einschätzungen in verschiedenen Lebenssituationen der Kinder. Gerade validierte ICF-CY- orientierte Verfahren zur Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in sozialen Kontexten sind notwendig, um auch im Hinblick auf eine Evaluation der Therapieeffektivität Ergebnisse quantifizieren zu können.
Skala zur Verständlichkeit im Kontext Hierzu stellt die Skala zur Verständlichkeit im Kontext (Intelligibility in Context Scale / ICS) ein erstes Verfahren im Deutschen bereit (McLeod et al. 2012). Die ICS-G ist ein kostenfrei herunterzuladendes Screening-Instrument, das Eltern die Möglichkeit gibt, die Sprechverständlichkeit ihres Kindes in Bezug auf sieben verschiedene Kommunikationspartner (z. B. Freunde, Lehrer, unbekannte Personen) einzuschätzen. Die Verständlichkeit wird mithilfe einer Fünf-Punkte-Skala durch die Eltern bewertet. Der Gesamtpunktwert kann von minimal sieben bis maximal 35 Punkte reichen. Es wird daraus ein Durchschnittswert errechnet, der maximal den Punktwert fünf abbildet. Je höher dieser Wert, desto verständlicher wird das Kind eingeschätzt.
Die ICS wurde in mittlerweile 63 Sprachen übersetzt und in verschiedenen Sprachen auch im Hinblick auf Validität und Reliabilität überprüft (McLeod 2015). Für die deutsche Version belegen Neumann et al. (in Vorbereitung) erste psychometrische Daten. Unter dem folgenden Link ist die ICS in jeglicher Sprachversion kostenfrei erhältlich: http://www.csu.edu.au/research/multilingual-speech/ics, 15.05.17. Dies macht auch ihren Einsatz in anderen Sprachen (z. B. Arabisch, Polnisch) für die Sprachtherapie möglich und hilft bei der Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in deren Muttersprache.
3.7 Überprüfung der phonologischen Bewusstheit
Kinder mit einer konsequenten oder inkonsequenten phonologischen Störung tragen ein großes Risiko, eine Lese-Rechtschreib-Störung zu entwickeln (Schnitzler 2015). Dies liegt darin begründet, dass das zugrunde liegende Defizit insbesondere der konsequenten phonologischen Störung auf der gleichen Sprachverarbeitungsebene liegt wie ein häufiges Defizit der Lese-Rechtschreibstörung: der Ebene des phonologischen Erkennens.
Lese-Rechtschreibstörung Daher empfiehlt es sich gerade bei Kindern mit konsequenter phonologischer Störung, vor Schuleintritt die phonologische Bewusstheit zu überprüfen. Für die deutsche Sprache liegt ein standardisiertes Diagnostikum für die Altersspanne 4;0 Jahre bis Ende erste Klasse vor, das die verschiedenen Ebenen des Sprachverarbeitungsprozesses einzuschätzen vermag (TPB, Fricke / Schäfer 2011). Einzelne Anteile der phonologischen Bewusstheit können auch mit dem TEPHOBE (= Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit, Mayer 2014) bei Kindern im Alter von fünf Jahren bis Ende der zweiten Klasse überprüft werden.
3.8 Überprüfung der orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten
Liegt bei einem Kind ein Sigmatismus oder Schetismus lateralis oder eine multiple Interdentalität vor, empfiehlt sich eine Überprüfung seiner orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten, da eine kausale Beziehung zwischen einer orofazialen Einschränkungen und dieser Art der Aussprachestörung möglich ist. Zur Überprüfung der orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten bieten sich die Materialien von Kittel (2014) oder Giel / Tilmanns-Karus (2004) an. Des Weiteren können myofunktionelle Störungen auch bei Kindern vorliegen, die keine oder eine phonologische Ausspracheproblematik aufweisen. Im letzteren Fall ist die Überprüfung der orofazialen Situation nicht therapierelevant für die Aussprachestörung und kann daher auch nachgeordnet erfolgen, da hier dann von einer parallel existierenden Symptomatik, aber nicht von einer bedingenden Kausalität auszugehen ist.
3.9 Diagnostik bei bilingualen Kindern
Generell ist das Wissen um die phonetisch-phonologische Entwicklung von mehrsprachigen Kindern mit der Zweitsprache Deutsch noch sehr gering und nur auf Studien mit kleiner Stichprobe begrenzt (Fox-Boyer / Salgert 2014). Dies erschwert die Differenzialdiagnostik der Aussprache der Kinder in hohem Maße, da keine Normwerte vorliegen und publizierte Diagnostikmaterialien kaum Erwerbsbiografien berücksichtigen (Kannengieser 2015). Daher zeigen sich Probleme in der sprachtherapeutischen Betreuung (inter)national sowohl in der Über- als auch in der Unterversorgung der Kinder. Viele Kinder werden aufgrund ihres eingeschränkten Wissens in der deutschen Sprache zur Therapie überwiesen. Dieser Umstand wird als mistaken identity (overdiagnosis) bezeichnet (Paradis 2005). Paradoxerweise ist andererseits genau das Gegenteil der Fall, wenn mehrsprachige Kinder mit Spracherwerbsstörungen keine Therapie verschrieben bekommen, da von einem reinen Zweitsprachproblem ausgegangen wird: missed identity (underdiagnosis) (MacSwan / Rolstad 2006). Fox-Boyer / Salgert (2014) gehen von einer Unterversorgung der mehrsprachigen Kinder mit Aussprachestörung aus.
Bisher liegen für den Bereich der Ausspracheüberprüfung deutsch-bilingualer Kinder in Deutschland drei veröffentlichte Diagnostikmaterialien für Türkisch-Deutsch vor: das Wiener Lautprüfverfahren für Türkisch sprechende Kinder (Wielau-T, Lammer / Kalmár 2004), der Türkisch-Artikulations-Test (TAT, Naş 2010) sowie das Screening der Erstsprachfähigkeit bei Migrantenkindern Türkisch-Deutsch (SCREEMIK 2, Wagner 2008), worin auch eine Version für Russisch-Deutsch enthalten ist. Der Türkische Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder (TPT) befindet sich noch in Vorbereitung bzw.