wie z. B. von Shriberg (1994; 1997) vorgeschlagen. Dieser Ansatz entstammt der medizin-orientierten Sichtweise logopädischer Störungsbilder. Untersuchungen konnten allerdings zeigen, dass es mit ihrer Hilfe nicht möglich ist, alle betroffenen Kinder eindeutig den verschiedenen vorgeschlagenen Untergruppen zuzuteilen (Fox et al. 2002). Während einige Kinder keine ätiologischen Auffälligkeiten zeigen, zeigen sich bei anderen Kindern gleich mehrere Faktoren parallel. Ein weiterer Nachteil ist, dass sich auch hier keine therapeutischen Schritte ableiten lassen.
Quantitative Einteilungen (Van Riper 1963; Shriberg / Kiatkowski 1982) bestimmen den Schweregrad einer Aussprachestörung mithilfe der Berechnung der Anzahl betroffener Phoneme (z. B. PCC = Prozentwert korrekter Konsonanten). Untersuchungen zeigten, dass nicht alle Kinder mit einer Aussprachestörung sich in der Anzahl ihrer betroffenen Phoneme oder Konsonanten von Kindern, die sich im Regelerwerb gleichen Alters befinden, unterscheiden (Clausen / Fox-Boyer, in Vorbereitung) und auch hieraus lassen sich keine therapeutischen Schritte ableiten.
Klassifikationsansatz von Dodd In der internationalen Literatur (Überblick siehe Waring / Knight 2013) findet sich neben dem ätiologischen Klassifikationsansatz von Shriberg (1994) der psycholinguistische Klassifikationsansatz von Dodd (1995; 2005). Letzterer ist ein Ansatz, der für viele Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien als anwendbar beschrieben worden ist, z. B. für das Englische (Dodd 1995; 2005), Deutsche (Fox / Dodd 2001), Türkische (Topbas / Yavas 2006), Cantonesische (So 2006), Spanische (Goldstein 1996), Putonghua (Hua / Dodd 2000) und das Dänische (Clausen / Fox-Boyer, in Vorbereitung).
Waring / Knight (2013) kritisierten allerdings, dass sich der Ansatz zwar für viele Forschungsfragen eindeutig bewährt habe, der Nachweis darüber aber fehle, inwieweit eine Implementierung dieses Ansatzes in den klinischen Alltag möglich ist. Clausen und Fox-Boyer (in Vorbereitung) konnten jedoch zeigen, dass eine Implementierung in einem Land (Dänemark), in dem dieser Ansatz bislang nicht bekannt war, mit wenigen Publikationen und kurzen Schulungen implementierbar war. Diese Erfahrung konnte auch für Deutschland seit Beginn des 21. Jahrhunderts gemacht werden, auch wenn dies nicht wissenschaftlich evaluiert wurde. Bis zum Jahr 2000 wurden Aussprachestörungen in Deutschland nicht in Untergruppen eingeteilt, sondern alle Formen von Aussprachestörungen wurden in der Regel mit dem Begriff „Dyslalie“ belegt. Therapeutisch wurde fast ausschließlich die klassische Artikulationstherapie (Van Riper 1939) als einziges therapeutisches Vorgehen gelehrt und angewendet. Mithilfe zahlreicher Publikationen und Fortbildungen wurde der psycholinguistische Klassifikationsansatz von Dodd (1995; 2005) durch Fox in Deutschland implementiert, so dass es sich nun um den in Deutschland am häufigsten verwendeten Klassifikationsansatz handelt. Aus diesem Grund werden im Rahmen dieses Kapitels der Terminologie von Dodd (1995; 2005) folgend diese Unterbegriffe verwendet:
■ Artikulations- bzw. Phonetische Störung,
■ Phonologische Verzögerung,
■ Konsequente Phonologische Störung,
■ Inkonsequente Phonologische Störung.
2.2 Prävalenz
Studien zur Prävalenz von funktionellen Aussprachestörungen konnten zeigen, dass diese die häufigste Form einer Sprachentwicklungsproblematik bei Kindern darstellen, so dass Kinder mit Aussprachestörungen einen sehr großen Anteil der Klienten von Sprachtherapeuten in verschiedenen Ländern ausmachen (McLeod / Baker 2014, Mullen / Schooling 2010). Vorläufige Prävalenzangaben für Aussprachestörungen im Deutschen gehen von ca. 16 % betroffenen Kindern im Alter von drei Jahren bis zur Einschulung aus (Fox-Boyer 2014b). Diese Zahlen bestätigen Ergebnisse aus dem angloamerikanischen Bereich (Fox-Boyer 2014c).
2.3 Definitionen und Symptomatologie
Im Folgenden werden die verschiedenen Störungsarten, ihre Symptomatik, die angenommenen Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess und die am häufigsten vermuteten Ursachen beschrieben. Um die angenommenen Störungsebenen innerhalb des Sprachverarbeitungsprozess und die später daraus resultierenden Therapieableitungen besser einordnen zu können, soll zunächst das Sprachverarbeitungsmodell von Stackhouse / Wells (1997) eingeführt werden (Abb. 4).
Abb. 4: Sprachverarbeitungsmodell nach Stackhouse / Wells (1997)
Sprachverarbeitungsmodell von Stackhouse / Wells (1997) Dieses Sprachverarbeitungsmodell stellt international das einzige Modell dar, das das Ziel verfolgt, den Erwerbsprozess der kindlichen Aussprache und deren Grundlagen für den späteren Lese-Rechtschreib-Erwerbsprozess darzustellen.
Repräsentation Die drei dickumrandeten Kästchen phonologische Repräsentation, semantische Repräsentation und motorisches Programm stellen Ebenen innerhalb des Langzeitgedächtnisses dar.
Als phonologische Repräsentation versteht man die Abspeicherung der korrekten Wortform, während die semantische Repräsentation die korrekte Abspeicherung der Wortbedeutung darstellt. Das motorische Programm enthält sogenannte „gestische Targets“ für die Artikulation. Hier sind Informationen über die Stellung und Bewegung der Artikulationsorgane gespeichert. Bei den gestischen Targets handelt es sich also um gespeicherte, automatisierte Bewegungsabfolgen.
Inputverarbeitung Auf der linken Seite des Modells finden sich die rezeptiven Sprachverarbeitungsanteile. Auf der Ebene der peripheren auditiven Verarbeitung findet eine Feststellung dahingehend statt, ob eine akustische Schallübertragung (z. B. das Hören eines Wortes) stattgefunden hat. Auf der Ebene der Diskrimination Sprache / Nicht-Sprache wird entschieden, ob der akustische Reiz ein Sprachsignal oder ein anderes akustisches Signal (z. B. ein Geräusch) beinhaltet. Bei Sprachsignalen findet – je nach Alter unterschiedlich detailliert – ein phonologisches Erkennen statt, d. h., die phonologischen Bestandteile des Inputs werden analysiert.
Outputverarbeitung Auf der rechten Seite des Modells finden sich die expressiven Anteile der Sprachverarbeitung. Die Ebene der motorischen Planung bestimmt z. B. den Sprechfluss, die Sprechgeschwindigkeit oder die Lautstärke, während auf der Ebene der motorischen Ausführung eine tatsächliche Umsetzung des Geplanten stattfindet.
Die phonetische Diskrimination ist eine sogenannte Offline-Ebene, die dann angesprochen wird, wenn phonetische Informationen erlernt oder identifiziert werden müssen. Diese Ebene wird z. B. angesprochen, wenn einem Kind ein isolierter Laut vorgesprochen wird und das Kind erkennen muss, um welchen Laut es sich handelt. Eine weitere Offline-Ebene stellt das motorische Programmieren dar. Mithilfe des motorischen Programmierens gelingt es dem Kind, ad hoc motorische Pläne für eine sprachliche Äußerung zu erstellen. Werden diese Pläne sehr häufig aktiviert (z. B. beim Wortlernen), gehen diese mehr und mehr in die Ebene des motorischen Programms für das zu lernende Wort über. Des Weiteren wird das motorische Programmieren beim Nachsprechen von Nichtwörtern aktiviert, da für Nichtwörter keine der Repräsentationsebenen vorhanden ist.
Stackhouse / Wells (1997) gehen davon aus, dass eine Klassifikation von Kindern mit Aussprachestörungen nicht möglich ist, sondern dass für jedes Kind ein individuelles Profil an Stärken und Schwächen innerhalb des Sprachverarbeitungsprozess erstellt werden sollte. Unterstützt man diesen Gedankengang, so ist der diagnostische Prozess für Kinder mit Aussprachestörungen sehr zeitaufwendig, da jede einzelne Ebene des Sprachverarbeitungsprozesses untersucht werden müsste. Des Weiteren wäre ein standardisiertes Diagnostikmaterial vonnöten, um diese Ebenen untersuchen zu können. Für das Deutsche bietet der TPB (Test für phonologische Bewusstheitsfähigkeiten, Fricke / Schäfer 2011) für die meisten Ebenen diese Möglichkeit; allerdings nur für Kinder im Alter von vier Jahren bis zum Ende der ersten Klasse.
2.3.1 Phonetische Störung bzw. Artikulationsstörung
Laut Fey (1992) ist die phonetische bzw. Artikulationsstörung definiert als die Unfähigkeit, ein Phon isoliert oder in jeglichem linguistischen Kontext korrekt