untersuchten bilingualen Kinder zeigten Frikative und Affrikate häufig etwas verspätet. Des Weiteren wurden bidirektionale Transferphänomene der Sprachen und eine hohe Anzahl von Vokalfehlern festgestellt.
Büttner (2012) konnte bei deutsch-russischen unauffällig entwickelten Kindern (3;0 bis 4;8 Jahre) sowohl für das Deutsche typische wie auch untypische phonologische Prozesse (z. B. Tilgung des wortfinalen Schwa-Lauts und Vokalfehler) herausstellen.
Lleó und Kollegen lieferten zum deutsch-spanischen Bereich des Ausspracheerwerbs erste Daten von fünf typisch entwickelten bilingualen Kindern im Alter von 1;0 bis 3;0 Jahren. Die Kinder zeigten stimmhafte Frikative sowie unbetonte Silben in Jamben später als ihre monolingual spanischen Peers (Fox-Boyer / Salgert 2014).
Diese ersten Studienergebnisse geben einen kleinen Einblick in den Phonologieerwerb bei deutsch-bilingualen Kindern, die jedoch noch nicht zu verallgemeinern sind. Hier besteht zukünftig noch ein großer Forschungsbedarf in den Wissenschaftsbereichen der Linguistik, Psycholinguistik und akademischen Sprachtherapie im deutschsprachigen Bereich. Aussagekräftige Daten wären insbesondere für die Interpretation phonologischer Leistungen von bilingualen Kindern mit Verdacht auf Aussprachestörungen von enormer Relevanz (Fox-Boyer / Salgert 2014).
Fox-Boyer, A., Salgert, K. (2014): Erwerb und Störungen der Aussprache bei mehrsprachigen Kindern. In: Chilla, S., Haberzettl, S. (Hrsg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen (Mehrsprachigkeit). Elsevier, München, 109-121
Zusammenfassung
Kinder erwerben die Aussprache ihrer Muttersprache in der Regel ohne große Anstrengung in ihren ersten Lebensjahren. Der Phonologieerwerb vollzieht sich in verschiedenen Phasen, die vom Lallen bis hin zu korrekten Wortrealisationen reichen. Kinder zeigen bereits vor der Geburt wichtige phonetisch-phonologische Perzeptionsleistungen, die sich kontinuierlich weiterentwickeln und die spätere phonologische expressive Entwicklung entscheidend beeinflussen. Durch den ständigen Kontakt zur Muttersprache werden deren phonetische Merkmale und Kontraste zunehmend besser erkannt, selektiert und gespeichert. Im ersten Lebensjahr entdeckt das Kind seine Fähigkeit zur Realisation von Sprachlauten und es beginnt seine Vokalisationen stetig der phonetischen Struktur der Zielsprache anzunähern. Die Phase der sprachlichen Entwicklung beginnt mit dem Stadium der ersten Wortproduktionen im Alter von neun bis 15 Monaten. Kinder zeigen physiologische phonologische Prozesse, die ihrer regulären phonologischen Entwicklung entsprechen. Zu der phonetisch-phonologischen Entwicklung und deren Störungen bei mehrsprachigen Kindern liegen in Bezug auf Deutsch als L2 nur sehr wenige Pilotstudien vor.
2 Störungen der Aussprache
Ca. 10 bis 15 % der Kinder zeigen eine Abweichung vom regelrechten Ausspracheerwerb im Hinblick auf zeitliche oder inhaltliche Aspekte. Zeitlich bedeutet, dass sie physiologische Vereinfachungsprozesse noch zu einem untypisch späteren Zeitpunkt zeigen. Unter inhaltlichen Aspekten versteht man Veränderungen der kindlichen Aussprache, die so im regelrechten Ausspracheerwerb nicht auftreten. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, auf der Basis des zuvor beschriebenen regelrechten Ausspracheerwerbs, Ursachen, Klassifikationsmodelle und Arten von kindlichen Aussprachestörungen zu skizieren. Des Weiteren werden diagnostische und therapeutische Möglichkeiten vorgestellt und in ihrem Einsatz begründet.
2.1 Begriffsklärung
Unter einer Aussprachestörung versteht man mögliche Schwierigkeiten im Bereich Perzeption, Artikulation / Motorische Produktion und / oder phonologischer Repräsentation der Sprech-Segmente (Konsonanten und Vokale), der Phonotaktik (Silben und Wortformen) und der Prosodie (lexikalische und grammatikalische Töne, Rhythmus, Betonung und Intonation), die sich negativ auf die Verständlichkeit und Akzeptanz der Kinder auswirken können (International Expert Panel on Multilingual Children‘s Speech 2012).
Aussprachestörungen können als alleiniges Symptom einer sprachlichen Problematik, aber auch als Teilsymptom einer generellen Sprachentwicklungsstörung auftreten. Oftmals werden Kinder insbesondere wegen ihrer Ausspracheprobleme an Logopäden bzw. Sprachtherapeuten überwiesen, da Lautbildungsschwierigkeiten in der pädiatrischen Früherkennungsuntersuchung am einfachsten zu diagnostizieren sind.
organische und funktionelle Aussprachestörungen Grundsätzlich muss zwischen organischen und funktionellen Aussprachestörungen unterschieden werden. Bei organisch bedingten Aussprachestörungen lässt sich eine Ursache anamnestisch feststellen. Hierunter fallen Aussprachestörungen, die zum Beispiel durch angeborene Hörstörungen, durch Zerebralparesen (kindliche Dysarthrie), durch LKGS-Fehlbildungen oder durch kognitive Einschränkungen z. B. im Rahmen genetischer Syndrome verursacht sein können (für einen Überblick über Risikofaktoren für Aussprachestörungen s. Fox-Boyer 2016a).
Funktionelle Aussprachestörungen, d. h. Aussprachestörungen, bei denen die gesicherte Feststellung einer Ursache nicht möglich ist, treten weitaus häufiger auf. Eine Aussprachestörung mit bisher ungeklärten Status ist die verbale Entwicklungsdyspraxie. Laut Definition müsste bei einer Dyspraxie eine neurologische Grunderkrankung vorliegen. Es ist allerdings nur in sehr seltenen Fällen möglich, diese tatsächlich nachzuweisen (Schulte-Mäter 2009), so dass die verbale Entwicklungsdyspraxie unter den funktionellen Aussprachestörungen abgehandelt wird. Das folgende Kapitel bezieht sich ausschließlich auf funktionelle Aussprachestörungen.
Wandel in der Terminologie Auch Kinder mit funktionellen Aussprachestörungen stellen keine homogene Gruppe dar, wie dies ursprünglich von Van Riper (1939) angenommen wurde. Sie unterscheiden sich in ihrer Symptomatik, dem Schwergrad, ihrer Ätiologie und der Reaktion auf Therapieansätze. In seinen ersten Veröffentlichungen in den Jahren 1939 bis 1963 ging Van Riper davon aus, dass Aussprachestörungen durch mangelnde Reifung der Artikulationsbewegungen eine motorisch bedingte Problematik darstellten. Erst Ende der 1960er Jahre begannen theoretische Phonologen, sich mit der kindlichen Ausspracheentwicklung zu befassen, und mit Beginn der klinischen Phonologie in den 1980er Jahren (Grunwell 1987) wurden Aussprachestörungen auch aus linguistischer, insbesondere aus psycholinguistischer Sicht betrachtet (Ingram 1989). Seit diesem Zeitpunkt wird davon ausgegangen, dass es sich bei Aussprachestörungen um vielfältige Störungsarten innerhalb des Sprachverarbeitungsprozesses handelt.
speech sound disorder Der Wandel über die Sicht der Ursachen und Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess von Aussprachestörungen reflektiert sich auch in der Terminologie: Wurden zunächst Aussprachestörungen mit dem Begriff „Artikulationsstörung“ der „Dyslalie“ belegt, setzte sich nun der Begriff der „phonetisch-phonologischen Störungen“ durch. All diese Begriffe wurden und werden in der Literatur vielfältig definiert, so dass bis heute nicht von einer einheitlichen Terminologie ausgegangen werden kann. Im Jahr 2017 kann festgestellt werden, dass sich der Begriff „speech sound disorder“ als Oberbegriff in der internationalen Literatur durchgesetzt hat.
speech sound disorder Im Deutschen wird der Begriff „speech sound disorder“ mit dem Begriff „Aussprachestörung“ als Oberbegriff für die verschiedenen Arten der Ausspracheproblematiken übersetzt. Da ein Oberbegriff Unterkategorien erfordert, ist es notwendig, sich mit Ausdifferenzierungen und damit mit veröffentlichten Klassifikationssystemen für Aussprachestörungen zu befassen. In der Literatur finden sich linguistisch-deskriptive, ätiologische, quantitative und psycholinguistische Klassifikationsansätze (Waring / Knight 2013). Daneben stehen Autoren, die davon ausgehen, dass die Klassifikation von kindlichen Aussprachestörungen nicht sinnvoll sind (Stackhouse / Wells 1997).
linguistisch-deskriptive Beschreibungen Die älteste Form der Klassifikation stellen linguistisch-deskriptive Beschreibungen dar. Sie beschreiben die Symptomatik einer Aussprachstörung entweder mithilfe einer Benennung der betroffenen Laute (veraltet: z. B. Sigmatismus, Kappazismus, Rhotazismus) oder von phonologischen Prozessen (z. B. Vorverlagerung der Velare, Plosivierung der Frikative). Ihr Ziel ist es nicht, Aussprachestörungen zu klassifizieren. Sie bieten daher weder Aussagen über mögliche Störungsebenen oder Ursachen, noch lassen sich daraus therapeutische Schritte ableiten.