Abb. 2: Erwerb des phonemischen Inventars entsprechend 75 %-Kriterium und 90 %-Kriterium (nach Fox / Dodd 1999, N = 177)
Die Ergebnisse der Studie von Fox / Dodd (1999) bestätigen die allgemeine Erwerbsreihenfolge:
■ Plosive und Nasale werden vor Frikativen erworben.
■ Stimmlose Phoneme werden vor stimmhaften Phonemen erworben.
■ Anteriore Phoneme (Labiale und Coronale) werden vor velarer Einzelkonsonanz erworben.
■ Einzelkonsonanz wird vor Mehrfachkonsonanz erworben.
phonetisches vs. phonemisches Inventar Wenn man den Erwerb des phonetischen Inventars mit dem phonemischen Inventar (auf der 75 %-Ebene) vergleicht, fällt auf, dass es Laute [m n p b t d] gibt, die sehr früh im Alter von 1;6 bis 2;5 Jahren gleichzeitig phonetisch und phonemisch erworben werden. Dieser gleichzeitige Erwerbseffekt gilt ab dem Alter von 2;6 Jahren auch für die Laute [j ŋ ʁ x ʃ]. Weiterhin können Laute zusammengefasst werden, die zwei bis drei Altersgruppen vor dem phonemischen Erwerb phonetisch erworben werden, wie [v f l g k h ç pf]. Eine letzte Gruppe bilden Laute, die phonemisch bis zum Alter von 6;0 Jahren erworben werden, jedoch nicht phonetisch: [s z ts] (Fox-Boyer 2016a).
1.5.3 Erwerb der Konsonantenverbindungen
Konsonantenverbindungen im phonologischen System von Kindern sind aufgrund ihrer Komplexität wesentlich anfälliger für Realisationsabweichungen als einzelne Konsonanten. McLeod et al. (2001) beschreiben als universell zu betrachtende Entwicklungstrends beim Erwerb von Konsonantenverbindungen auf der Grundlage eines Literaturreviews. Der Erwerb der Konsonantenverbindungen erfolge nach einer bestimmten Entwicklungssequenz und scheine sich graduell zu vollziehen. Es treten hierbei Reduktionen und Vereinfachungen von Konsonantenverbindungen auf. Es bestehe trotzdem die Annahme einer Kombination universeller Trends und individueller Variabilität als Kernmerkmal phonologischer Entwicklung. Kinder würden in der Regel Konsonantenverbindungen zunächst auf ein Element reduzieren (McLeod et al. 2001).
Konsonantenverbindungen mit Plosiven (z. B. / pl, bl, kʁ / ) würden tendenziell vor Konsonantenverbindungen mit Frikativen (z. B. / fl, fʁ, ʃm / ) erworben.
Bernhardt / Stemberger (1998) postulieren wortinitiale Obstruent-Liquid-Verbindungen als erste Konsonantenverbindungen bei Kindern.
Für den Erwerb der Konsonantenverbindungen im Deutschen führt Fox-Boyer (2016a) aus, dass Konsonantenverbindungen bestehend aus einem Plosiv oder / f / + 2. Element in der Regel vor Konsonantenverbindungen bestehend aus / ʃ / + Kontinuum / Plosiv / Nasal erworben werden. Die erhobenen Langzeitdaten von Schäfer / Fox-Boyer (2016a) an sechs Kindern zeigen, dass alle Kinder am Ende des dritten Lebensjahres fast 100 % aller deutschen Konsonantenverbindungen in ihrer Struktur und auch mit der korrekten Lautproduktion erworben hatten. Hierbei wurden jedoch Vor- und Rückverlagerungen von / ʃ / innerhalb eines / ʃ / -Clusters (z. B. [sl]) auch als korrekt gewertet. Aktuelle Daten aus einer deutschen Studienanalyse von Fox-Boyer (2016a) von 701 Kindern im Alter von 2;0 bis 5;11 Jahren belegen ein jüngeres Erwerbsalter von Konsonantenverbindungen im Vergleich zu den älteren Daten von 1999 (Fox / Dodd 1999). Konsonantencluster allgemein können nun gegen Ende des dritten Lebensjahres als hochgradig stabil erworben angesehen werden (Schäfer / Fox-Boyer 2016).
initiale Konsonantenverbindungen Im kindlichen Wortschatz des Deutschen gibt es 23 initiale Konsonantenverbindungen bestehend aus zwei Konsonanten (CC) und zwei initiale Verbindungen aus drei Konsonanten (CCC): [ʃtʁ, ʃpʁ] (Wiese 1996). Für den Erwerb dieser initialen Konsonantencluster im Deutschen liegen aktuelle Daten vor (Fox-Boyer / Neumann 2016, Schäfer / Fox-Boyer 2016). Fox-Boyer / Neumann (2016) untersuchten 427 Kinder im Alter von 2;0 bis 4;11 Jahren bezüglich dem Erwerbsalter. Abbildung 3 stellt diese Ergebnisse dar. Es zeigte sich, dass die Kombination von C+ / l / zuerst erworben wird, gefolgt von allen weiteren Konsonantenkombinationen, während die Verbindungen von / ʃ / +C und / ʃ / +CC am spätesten erworben werden.
Abb. 3: Erwerb der Konsonantenverbindungen (Fox-Boyer / Neumann 2016)
Schäfer / Fox-Boyer (2016) stellten bei 145 monolingual-deutsch sprechenden Kindern (2;0 bis 2;11 Jahre) fest, dass Drei-Element-Cluster (CCC) parallel zu Zwei-Element-Clustern (CC) erworben werden, was McLeod‘s et al. (2001) publizierten Trends widerspricht und bedeutet, dass phonotaktische Komplexität nicht unbedingt Einfluss auf den Erwerb der Konsonantenverbindungen hat. Schäfer / Fox-Boyer (2016) konnten als typische CC-Reduktionsmuster folgende ausmachen: Wenn der erste Konsonant eines CC ein Plosiv oder ein / f / gefolgt von einem / l / war, reduzierten die Kinder das Konsonantencluster entweder auf den ersten oder zweiten Konsonanten. Bei Clustern, die mit einem Plosiv begannen oder einem / f / , gefolgt von einem / ʁ / , reduzierten fast alle 2;0- bis 2;6-jährigen Kinder das Cluster auf den ersten Konsonanten, während die ältere Gruppe bis 2;11 Jahre auch manchmal auf C2 reduzierte. Die Cluster / kv / und / kn / wurden von den Zweijährigen überwiegend auf den zweiten Konsonanten reduziert. / ʃ / -Cluster wurden generell auf den ersten Konsonanten reduziert. Beim Cluster / ʃl / kamen jedoch sowohl Reduktionen auf C1 und C2 vor. Die Konsonantenverbindung / ʃʁ / zeigt eine Reduktionspräferenz auf C1 bei den jüngeren Zweijährigen, während die ältere Gruppe keinerlei Präferenz aufwies.
Die Ergebnisse der Studie von Fox-Boyer / Neumann (2016) bestätigen, dass Verbindungen mit drei Konsonanten zu den am spätesten erworbenen gehören. In Abbildung 3 wird deutlich, dass 90 % der untersuchten Kinder erst im Alter zwischen 4;0 und 4;5 Jahren dreigliedrige initiale Konsonantenverbindungen der Zielform entsprechend verwendeten.
Wortfinale Konsonantenverbindungen werden von Kindern schon bereits mit 2;5 Jahren beherrscht. Nur vereinzelt kommt es noch zu Auslassungen des / t / nach Sibilanten (Fox-Boyer 2016a).
1.5.4 Physiologische phonologische Prozesse und Realisationskonsequenz
Das phonologische System des Deutschen wird von monolingual-deutsch aufwachsenden Kindern in einem hierarchischen Prozess während der ersten fünf Lebensjahre erworben (Fox-Boyer 2016a).
Vereinfachungen in Laut- und Silbenstruktur Bevor Kinder alle Phoneme ihrer Muttersprache vollständig erworben haben, zeigen sie Vereinfachungen der Laut- und Silbenstruktur. Diese Veränderungen werden phonologische Prozesse genannt.
Ein phonologischer Prozess (Kauschke 2012, 35) wird definiert als ein „Mittel der Beschreibung“, mit dem es möglich ist, „die beobachtbaren, regelhaften Unterschiede zwischen kindlichen und zielsprachgemäßen Wortformen“ benennen, klassifizieren und systematisieren zu können.
Inter-linguistische Studien konnten zeigen, dass sich für jede Sprache ein spezifisches Set an physiologischen phonologischen Prozessen nachweisen lässt. Des Weiteren zeigte sich, dass jeder Prozess zu einem sprachspezifischen Zeitpunkt überwunden wird.
Während der sehr frühen phonologischen Entwicklung, noch in der Einwortphase, entwickelt das Kleinkind nach und nach unbewusste (Wort-)Segmentierungsfähigkeiten, was die ganzheitliche Erfassung und Speicherung von Wörtern immer mehr ablöst (Stackhouse / Wells 1997). Da der Input nun immer genauer reflektiert und präziser abgespeichert wird, passt sich der kindliche Output daran an, was aber noch sehr variabel (inkonsequent) und nicht „erwachsenengemäß“ auftritt (< 2;0 bis 2;5 Jahre). Diese universellen Muster der Vereinfachung lassen eine gewisse Systematik erkennen, sollten auf dieser Entwicklungsstufe aber eher als phonologische Phänomene anstatt als phonologische Prozesse bezeichnet werden (Fox-Boyer et al. 2014a).
Realisationsinkonsequenzrate Schäfer / Fox (2006) belegten bei deutschsprachigen Kindern zwischen 2;0 und 2;5 Jahren einen Abfall der Inkonsequenzrate in der Phonemrealisation unter 40 %. Es lag aber immer noch eine große Variabilität vor (14