Werner Suter

Ökologie der Wirbeltiere


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Der Verlust des mikrobiellen Proteins spielt für die großen Arten mit ihrem vergleichsweise niedrigen Grundumsatz keine Rolle. Zu dieser Gruppe gehören Unpaarhufer (Pferde, Nashörner, Tapire), Elefanten, Wombats (grasende Beuteltiere; Abb. 2.19) oder Seekühe.

      Für die kleinen Arten mit ihrem relativ höheren Energiebedarf (Kap. 2.1) wären der beschränkte Gewinn an Fettsäuren bei dem einfachen Durchlauf der Zellulose sowie der Verlust des mikrobiellen Proteins nicht tragbar, sodass sie einen Teil ihres Kots zur erneuten Verwertung fressen. Bei den Hasenartigen und einigen anderen Arten ist der Dickdarm mit einem Sortiermechanismus ausgestattet, der den groben Faseranteil aus dem Gemisch aus Flüssigkeit, Nahrungspartikeln und Mikroben aussondert (Björnhag 1994; Abb. 2.18). Das verfeinerte Gemisch wird mit antiperistaltischen Bewegungen zurück in den geräumigen Blinddarm befördert, wo zur Fermentation mehr Zeit zur Verfügung steht, als es im direkten Durchlauf durch den Dickdarm wie bei den großen Arten möglich wäre. Die Reste abgestorbener Mikroben werden im Dickdarm zu einem weichen Kotballen geformt und nach Austritt direkt ab Anus wieder gefressen; dadurch kann das Protein der enzymatischen Verdauung zugeführt werden. Die aussortierten Faserteile ergeben dann den «normalen» Kot in Form von trockenen, harten Bällchen (Abb. 2.27). Diese können zu Beginn der Tagesruhezeit ebenfalls nochmals aufgenommen werden. Den ganz kleinen Dickdarmfermentierern (kleinen Nagetieren) scheint dieser Trennmechanismus zu fehlen, doch können sie offenbar zwischen sehr trockenem Kot und solchem mit höherem Proteinanteil unterscheiden und nehmen dann den letzteren häufiger auf (Hirakawa 2001). Zu den koprophagen Dickdarmfermentierern gehören Hasentiere (Hase, Kaninchen etc.) und manche Nagetiere wie Ratten, Wühlmäuse oder Lemminge, Meerschweinchen (Cavia) und selbst etwas größere Arten wie Nutria (Myocastor coypus) und Wasserschwein (Hydrochaerus hydrochaeris; Hirakawa 2002). Neben einem Lemuren zählen auch verschiedene laubfressende australische Beuteltiere dazu, wobei einige größere Arten, zum Beispiel der Koala (Abb. 2.20), zwar mit Sortiermechanismus ausgestattet sind, aber auf das Kotfressen verzichten können.

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      Abb. 2.18 Verdauungstrakte eines großen (Savannenelefant, Loxodonta africana, links) und eines kleinen, koprophagen Dickdarmfermentierers (Kaninchen, Oryctolagus cuniculus, rechts) (Abbildung neu gezeichnet nach Stevens C. E. & Hume 1995).

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      Abb. 2.19 Der Wombat (Vombatus ursinus), ein südaustralisches Beuteltier, ist mit etwa 30 kg so groß, dass er es sich «leisten» kann, Grasfresser zu sein.

      Übrigens findet auch bei Vögeln die bei entsprechender Nahrung notwendige Fermentation mit einer Ausnahme (Abb. 2.23) im Blinddarm statt, der in der Regel paarig angelegt ist und bei Arten mit stark faserhaltiger Pflanzennahrung (zum Beispiel Strauß, Struthio, und Raufußhühnern) beachtliche Ausmaße annehmen kann. Gegen den Herbst hin kann die Länge der Blinddärme bei Raufußhühnern auf 75–100 % der Dünndarmlänge anwachsen, womit sie imstande sind, im Winter ausschließlich von Koniferennadeln oder den nadelförmigen Blättern von Ericaceen zu leben. Damit geht ein saisonaler Wechsel in der Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft einher (Wienemann et al. 2011). Umgekehrt sind die Blinddärme in vielen carnivoren oder frugivoren Vogelfamilien reduziert oder praktisch ganz verschwunden.

      Fermentation im Vormagen hat im Vergleich zur Fermentation im Dickdarm den Vorteil, dass das mikrobielle Protein als Quelle essenzieller Aminosäuren und Vitamin B auch ohne Koprophagie zur Verfügung steht. Dafür ist die enzymatische Verdauung weniger effizient, weil sie teilweise durch die Mikroben übernommen wird und dabei die bereits genannten Energieverluste entstehen. Vormagenfermentierer nehmen oft wesentlich längere Retentionszeiten in Kauf, da die Nahrung in einem komplizierten Prozess nur langsam das stark gekammerte Magensystem durchläuft. Dieser Prozess ist bei den Wiederkäuern durch den periodischen Rücktransport von Nahrungsklumpen in den Mund zum intensiven Kauen unterbrochen. In geringem Umfang (wenige Prozent der gewonnenen Energie) schließt sich auch bei den Vormagenfermentierern noch eine zweite Fermentierung im Dickdarmbereich an.

      Wiederkäuer haben das Prinzip der Vormagenfermentation durch einen zusätzlichen Sortiermechanismus perfektioniert, der eine extreme Zerkleinerung (und damit Verdauung) der Pflanzennahrung ermöglicht. Bei ihnen ist der Magen in vier Kammern geteilt. Die drei Vormägen, Pansen (rumen), Netzmagen (reticulum) und Blättermagen (omasum) sind eigentlich unterschiedlich differenzierte Teile der Speiseröhre, während der Labmagen (abomasum), der eigentliche Magen, homolog zum einhöhligen Magen vieler anderer Wirbeltiere ist (Abb. 2.15, 2.17). Während der Nahrungsaufnahme wird das weitgehend unzerkaute Pflanzenmaterial im Pansen, der größten der vier Kammern, deponiert. Bei einsetzender Fermentierung sinken die feineren Partikel schneller ab; dies führt im anschließenden Netzmagen zu einer Schichtung nach Partikelgröße. Hier werden die gröberen Partikel aussortiert und in den Pansen zurückbefördert, von wo sie portionenweise, als sogenannter Bolus, zum Wiederkäuen hochgebracht werden; die feineren Partikel aber verlassen den Netzmagen in Richtung des weiteren Verdauungstraktes. So kann Nahrung schnell in größerer Menge aufgenommen und die mechanische Zerkleinerung in Ruhe (meistens liegend; Abb. 2.22) und besser vor Prädatoren geschützt vorgenommen werden. Durch das zweite Kauen werden die Pflanzenteile mechanisch so zerkleinert, dass die Mikroorganismen die Fasern anschließend besser fermentieren können. Die Wiederkäuer erreichen damit, bezogen auf ihre Körpergröße, feinere Partikelgrößen als andere herbivore Säugetiere (Fritz J. et al. 2009). Die Fermentierungsprodukte, kurzkettige Fettsäuren aus Zellulose und Aminosäuren und Ammoniak aus Proteinen, werden vom Wirt zur Energiegewinnung und von den Mikroorganismen teilweise selbst für ihre Vermehrung gebraucht. Im Zuge der Fermentations-Kaskade wird auch Methan produziert und durch Rülpsen an die Umwelt abgegeben (heute sind wiederkäuende Nutztiere die Quelle von etwa 15 % aller Treibhausgase). Der für die Sortierfunktion im Netzmagen unerlässliche hohe Wassergehalt wird durch Speichel in den Vormagen eingebracht und in seinem hinteren Teil (Omasum) dem Nahrungsbrei wieder entzogen. Dann gelangt der Nahrungsbrei ins Abomasum. Dort und im anschließenden Dünndarm findet die enzymatische Verdauung von Fetten, einfachen Zuckern und Aminosäuren statt. Die aus dem Pansen gespülten Mikroben, die hier verdaut werden, sind selber die wesentliche Quelle von Proteinen für die Wiederkäuer.

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      Abb. 2.20 Der australische Koala (Phascolarctos cinereus) lebt von den Blättern von nur etwa fünf verschiedenen Arten von Eucalyptus, wovon er etwa 500 g pro Tag benötigt. Zur Fermentation dieser stark faserhaltigen Nahrung ist sein Blinddarm enorm entwickelt; er besitzt mit einer Länge von bis zu 2,5 m das größte relative Fassungsvermögen unter allen Säugetieren. Der Blinddarm ist auch für die effiziente Absorption des Wassers aus der Nahrung verantwortlich, denn frei lebende Koalas trinken nur selten freies Wasser.

      Der Fasergehalt der Nahrung sagt aus, wie «rau» («Raufutter») die Nahrung ist; die obere Grenze akzeptabler Qualität liegt dort, wo für Kauen und Fermentierung fast so viel Energie ausgegeben wie gewonnen wird. Die Retentionszeit steigt mit dem Fasergehalt und kann bis zu 100 h betragen. Der gesamte Verdauungsprozess der Wiederkäuer ist recht effizient, solange der Faseranteil nicht sehr hoch ist, und ergibt bei mittlerem bis geringem Faseranteil eine Verdaulichkeit organischer Substanz von 65–75 % (Kap. 2.6). Ein weiterer Vorteil ist, dass Stickstoff in Form von Harnstoff rezykliert werden kann. Als Nachteil schlägt zu Buche, dass die Mikroben Nährstoffe verdauen, welche der Wirt selbst hätte nutzen können, und ein Teil der resultierenden Energie dann in Form von Methan verlustig geht.

      Zu den Wiederkäuern gehören die Hirschferkel, Hirsche, Moschustiere, Boviden (Kühe, Antilopen, Schafe und Ziegenartige etc.), Gabelböcke und die Giraffen, die alle Angehörige der gleichnamigen Unterordnung Ruminantia (= Wiederkäuer) sind. Auch die Kamelartigen haben ein ähnliches Vormagensystem mit Sortierfunktion und Wiederkäuen entwickelt. Alle funktionellen Wiederkäuer sind damit Paarhufer.