der öffentlichen „Singschule“ nach dem Sonntagsgottesdienst wurden die Lieder vorgesungen und von den „Merkern“ peinlich genau auf die korrekte Befolgung der Regeln geprüft. Etwas freier ging es später im Wirtshaus beim „Zechsingen“ zu. Erst im 19. Jahrhundert kam der seit vierhundert Jahren in Nürnberg gepflegte Meistergesang aus der Mode.
Fleißig: Hans Sachs
Erheblich volkstümlicher wurden natürlich Hans Sachsens gereimte Schwänke mit Titeln wie „Sankt Peter mit den Landsknechten im Himmel“, „Sankt Peter mit der Geiß“, „Schlaraffenland“ und seine zahllosen Fastnachtsspiele, die „Das Narrenschneiden“ überschrieben sind, „Der schwangere Bauer“ oder „Der fahrende Schüler im Paradeiß“. Zielscheibe des milden, aber treffsicheren Spottes sind hier immer wieder die zänkische Ehefrau mit Haaren auf den Zähnen, der lüsterne Pfaffe, der blöde Bauer. Am Ende steht aber stets eine breit ausgemalte moralische Nutzanwendung, wie sie das ehrbare Bürgertum schätzte.
Durchaus selbstkritisch schildert Hans Sachs den Menschheitstraum vom Jungbrunnen, in den man als gebrechlicher Greis mühsam hineinklettert, um „schön, wohlgefarb, frisch, jung und gesund“ herauszuspringen:
Da dacht ich mir im schlaf: Fürwar,
alt bist auch, zwei und sechzig Jar;
dir geht ab an ghör und gesicht;
was zeichnest du dich, dass du auch nicht
wol bald in den jungbrunnen sitzest,
die alten haut auch von dir schwitzest?
Abzog ich alles mein gewand;
daucht mich im schlaf allda zuhand;
Ich stieg in jungbrunnen zu baden;
ab zu kumen des alters schaden.
In dem einsteigen ich erwacht,
meins verjüngens ich selber lacht;
dacht mir: ich muss nun bei mein tagen
die alten haut mein lebtag tragen,
weil kein Kraut auf erd ist gewachsen
heut zu verjüngen mich, Hans Sachsen.“
Poetische Unterstützung für die Reformation
Doch der Lieblingsautor des kultivierten Nürnberger Bürgertums erlebte einen bösen Absturz: Es gab einen Skandal, als er 1527 zusammen mit dem Prediger und Theologen Andreas Osiander ein bitterböses Pamphlet gegen den Papst schrieb; Sachs wurde mit einem dreijährigen Publikationsverbot belegt (und produzierte fortan Meisterlieder in Hülle und Fülle, denn sie durften nach altem Herkommen nicht gedruckt werden, brachten ihrem Verfasser aber literarischen Ruhm und bürgerliches Ansehen).
Wacht auf, es nahet sich dem Tag!
Ich höre singen im grünen Hag
Die wonnigliche Nachtigall;
Ihr Lied durchklinget Berg und Thal.
Die nacht neigt sich gen occident,
Der tag get auff von orient,
Die rotprünstige morgenröt
Her durch die trüben wolcken göt.
Nun das ir klerer mugt verstan
Wer die lieplich nachtigall sey
Die uns den hellen tag auß schrey
Ist doctor Martinus Lutther
Zuo Wittenberg Augustiner
Der uns auffweckt von der nacht
Darein der monschein uns hat bracht“
„Die Wittenbergisch Nachtigall“
Als überzeugter Parteigänger der Reformation, der die Freiheit des Gewissens über alles schätzte, veröffentlichte er später etliche intelligente Prosadialoge, welche die Überlegenheit der neuen Lehre zu beweisen suchten, das letzte Urteil aber – für die Zeit ungewohnt – dezent dem Leser überließen. Im Verlauf dieser fiktiven Streitgespräche werden Prälaten und Mönche regelmäßig von gewitzten Handwerkern, am liebsten wählt Sachs natürlich einen Schuhmacher, in die Ecke gedrängt und stehen am Ende als die Dummen da.
Am 19. Januar 1576 starb Hans Sachs einundachtzigjährig in Nürnberg, wo er auf dem Johannisfriedhof begraben liegt. Ganz in Vergessenheit geraten ist er nie. Grimmelshausen ließ ihn 1669 in seinem Schelmenroman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ wiederauferstehen. Der große Philosoph Hegel kannte ihn, rümpfte aber die Nase darüber, dass er wie ein Provinzler empfunden und die Weltoffenheit und den europäischen Geist seiner Vaterstadt immer nur „vernürnbergert“ habe. Für die literarische Bedeutung des Volksdichters, der es ähnlich wie Luther fertigbrachte, aus dem Wildwuchs der Dialekte allmählich eine deutsche Sprache zu formen und das breite Publikum für die anspruchsvollere Theaterbühne zu interessieren, hatte Hegel kein Gespür.
„Hans Sachs“, so eine respektvolle moderne Einordnung, „hob den Schwank aus der Verluderung und Verzotung des 15. Jahrhunderts zur Reife der satirischen Parabel empor, die die Lustspiele der antiken Klassik besaßen. Während der mittelalterliche Meistergesang nur biblische und dogmatische Stoffe kannte, machte Sachs durch seine Beiträge auch weltliche Gegenstände, Erkenntnisse der allgemeinen Lebenserfahrung und Lebensweisheit unter den Meistersingern ‚salonfähig‘. Überhaupt war es sein Anliegen, den kleinen Mann, der wenig zu sagen hat, in die Literatur als Gegenstand wie als Konsument einzuführen. Er machte den Alltag literaturwürdig, die Schwächen des Menschen liebenswert und wurde so zu einem Vater des modernen Volks- und Unterhaltungsschrifttums.“
Die Romantik mit ihrer Vorliebe für das Mittelalter entdeckte ihn neu, nachdem ihm schon Goethe mit seinem Gedicht „Erklärung eines alten Holzschnitts vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung“ neue Publizität verschafft hatte. Richard Wagner setzte ihm und seiner ganzen Zunft in den „Meistersingern von Nürnberg“ ein prächtiges Denkmal – das freilich wenig mit den historischen Fakten zu tun hat, das mittelalterliche Nürnberg stark idealisiert und die Traditionen und Regeln der Meistersinger mit viel dichterischer Fantasie behandelt. Hans Sachs ist hier noch ganz der Repräsentant einer eindrucksvollen, aber ziemlich erstarrten Überlieferung und noch kaum der Vermittler neuer, reformatorischer Bildungsinhalte für ein breites Publikum.
„Heilig sei dir die Freiheit des andern!“
Ketzerprozess gegen einen Bischof
Warum Johann Michael Sailer (1751–1832) in Rom denunziert, aber nicht verurteilt wurde
Irgendwo in der „Stanza Storica“, in den hintersten Archivkellern der Heiligen Inquisition, wo Dokumente aus grauer Vorzeit schlummern, entdeckte der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf an der Wende zum dritten Jahrtausend die vergilbten Spuren eines bayerischen Skandalfalls. Die Akten hatte ein verhältnismäßig liberaler Kurienprälat namens Lorenzo Nina dort deponiert oder, besser gesagt, versteckt – und dem Heiligen Stuhl damit eine Riesenblamage erspart.
Denn das Denunziationsopfer, das 1873 – vier Jahrzehnte nach seinem Tod – zum Ketzer erklärt werden sollte, hieß Johann Michael Sailer und wurde in Deutschland wie ein Kirchenvater verehrt. Heute gilt Sailer als einer der Pioniere moderner Theologie; er bereitete dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit seinem Aufbruch aus dem katholischen Getto schon den Weg, als das Erste Vaticanum,