Christian Feldmann

Bayerische Charakterköpfe


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er, denn der Durst nach Wahrheit komme „in gerader Linie“ von Gott. Sailer verteidigt das Gewissen als letzte Instanz für menschliches Denken und Handeln. Er versteht die Skeptiker und bekennt einem zweifelnden jungen Mann in rührender Offenheit: „Ich buchstabiere selber noch an der Wahrheit.“ Das Buchstabieren mache freilich bereit zum Lesen.

      1794, als seine Neider in Dillingen die schmähliche Entlassung des Professors Sailer erreichten, spielten solche Thesen und sein ungezwungener Verkehr mit Freigeistern und Evangelischen eine entscheidende Rolle. Aber auch sein „zu freundschaftlicher Umgang mit den Studenten“, wie ein Kollege zu Protokoll gab: „Professor Sailer kommunicierte ihnen Bücher, die sie nicht kennen sollten.“ Und wer immer gut Freund mit den jungen Leuten sein wolle, mache diese „stolz und unehrerbietig“ und störe Zucht und Ordnung.

      Der Rausschmiss, das weiß man heute, hatte ganz banale Hintergründe: Der zuständige Bischof, der sich von Sailer seine Hirtenbriefe hatte schreiben lassen, war in Geldnöten und wurde von einem mit Sailers Intimfeinden versippten Bankhaus unter Druck gesetzt. In München, wo der ohne Pension Hals über Kopf Entlassene Zuflucht fand, war es wiederum der Nuntius, der seine Ernennung zum Hofprediger hintertrieb.

      Jahre später, der nicht gerade klerusfreundliche Montgelas hatte die Zügel im Staat übernommen, berief man den vermeintlichen Aufklärer an die Universität Ingolstadt (bald darauf nach Landshut verlegt), wo er sogleich wieder zwischen die Fronten geriet: Von der Polizei wurde Sailer als finsterer „Römling“ bespitzelt, von der katholischen Reaktion als verkappter Freimaurer belauert.

      Mittlerweile hätte ihn die preußische Regierung gern als Erzbischof in Köln gesehen. Doch Rom, wo man das vernichtende Gutachten von Pater Hofbauer kannte, tat nichts, um den Kandidaten zur Annahme zu bewegen. Sailer war bereits siebzig Jahre alt, als sein Schüler und Freund, Kronprinz Ludwig, seine Ernennung zum Domkapitular und Bischofskoadjutor mit dem Recht der Nachfolge in Regensburg durchsetzte – immer noch gegen erhebliche Widerstände aus Rom. Auf die päpstliche Bestätigung musste man sechs Monate warten!

      In den folgenden sechs Jahren bereiste der noch recht vitale alte Herr unermüdlich das Bistum, predigte in den abgelegensten Winkeln und firmte mehr als 74 000 junge Menschen. Als Dompropst, Generalvikar und Weihbischof hatte Sailer die eigentliche Bistumsleitung inne. Bischof Johann Nepomuk von Wolf war so hinfällig und gebrechlich, dass er das Bett kaum mehr verlassen konnte. Siebenundsiebzigjährig bestieg Johann Michael Sailer 1829 für seine drei letzten Lebensjahre den Regensburger Bischofsstuhl.

      „Schonen, recht schonen soll er sich!“, ließ ihm Ludwig ausrichten, der inzwischen König geworden war. Aber Sailer, dessen robuste Natur mehrere Schlaganfälle überstand, widmete sich seinen Amtsgeschäften mit Hartnäckigkeit und Freude: Er führte regelmäßige Priesterexerzitien ein, baute den Unterhaltsfonds für alte und kranke Kleriker aus. Das Wichtigste war ihm die innere Erneuerung in den Reihen der Seelsorger, an denen er Habsucht, Anmaßung und Herzenshärte kritisierte.

      Am 20. Mai 1832, mit achtzig Jahren, gab er Gott sein Leben zurück.

       „Ich kann nicht halb lieben, dies kalte Blut fließt mir nicht in den Adern“

       „Mein Herz hat noch keine Rinde angesetzt“

      Wie die letzte Kurfürstin Maria Leopoldine (1776–1848) ihre Bayern vor dem Machtpoker der Habsburger rettete

      So ein prächtiges Fest hatten die Münchner wohl noch nie gesehen, wie es Graf Rumford im Februar 1795 im Englischen Garten veranstaltete: Auf dem Kleinhesseloher See gab es Lustfahrten, im Apollo-Tempel wiegten sich die neun Musen im Tanz, eine Blaskapelle lud zu einer perfekt nachgestellten Bauernhochzeit, mit Hochzeitslader, Brautzug, Festschmaus und allem, was sonst noch dazu gehört. Am Abend tauchten Tausende von Lampions den ganzen Park in buntes Licht, und ein gerade in München eingetroffener Chinese in Nationaltracht hielt eine wunderliche Gratulationsrede an den Kurfürsten und seine Gemahlin.

      Um die beiden ging es nämlich bei dem Spektakel: um Kurfürst Karl Theodor und seine bezaubernde Gattin Maria Leopoldine, die gerade geheiratet hatten, in Innsbruck. Die Münchner schauten sich die neue Regentin an, wie sie in Andacht versunken vor der Muttergottes in der Herzogspitalkirche kniete, und sie waren sofort begeistert. Die Gerüchte hatten nicht gelogen, die Maria Leopoldine ein apartes Äußeres, ein fröhliches Wesen und das Fehlen jeglicher Allüren bescheinigten.

       Ein ungeliebter Hochzeiter

      Eine peinliche Sache war diese Eheschließung trotzdem – zählte die hübsche Braut doch erst achtzehn Lenze, während der kurfürstliche Gatte im einundsiebzigsten Lebensjahr stand, körperlich verbraucht und geistig, nun ja, schon ein wenig senil. Die Münchner Lästermäuler hatten auch gleich ein hundsgemeines Couplet parat, das sie dem ungleichen Paar an allen Straßenecken hinterhersangen:

      „O lieber Herr und Heiland,

      was schickt der Herr aus Mailand?

      Eine schöne Frau

      für unsre alte Sau!“

      Was erst einmal verrät, wie wenig die Bewohner der Residenzstadt – und nicht nur die – für ihren Kurfürsten übrig hatten. Man hielt ihn für einen misstrauischen Despoten, schwankend in seinen Überzeugungen, ohne Gefühlsbeziehung zu seinem Volk, einzig und allein interessiert an Erhalt und Vergrößerung der eigenen Macht. Er war ja ein importierter Herrscher ohne altbayerischen Stallgeruch, geboren in Drogenbusch bei Brüssel, lange Zeit in Mannheim residierend, ein kleiner Provinzfürst, der von seinem Großvater Pfalz-Neuburg und die Kurfürstenwürde geerbt, durch die (erste) Heirat mit seiner Cousine die wittelsbachischen Besitzungen am Niederrhein gewonnen und nach dem kinderlos gestorbenen bayerischen Kurfürsten Max III. Joseph auch noch ein vereinigtes Kurfürstentum Pfalz-Bayern bekommen hatte.

      Ein „Glücksschwein“ nannte ihn sein Zeitgenosse Friedrich der Große respektlos, weil Karl Theodor, ohne sich anzustrengen oder auch nur einen Tag Krieg zu führen, ein riesiges Territorium zusammengerafft hatte. Über Nacht war er der drittmächtigste Regent im Reich geworden, nach dem deutschen Kaiser und dem König von Preußen. Glücklich war er trotzdem nicht mit dieser Konstellation. München, das erschien ihm als Provinz, bäuerlich, rückständig, viel zu bieder, verglichen mit dem weltläufigen Mannheim, das er in seiner Ägide zu einer Art westdeutschem Weimar ausgebaut hatte.

      Am meisten nahmen ihm seine Bayern übel, dass er das weißblaue Territorium allen Ernstes gegen die habsburgischen Niederlande tauschen wollte, um König eines neu zu schaffenden burgundischen Reiches mit den Städten Brüssel, Düsseldorf, Mannheim zu werden. Zum Glück stemmten sich Friedrich der Große und die anderen deutschen Fürsten mit Händen und Füßen gegen eine solche Machterweiterung des habsburgischen Imperiums.

      Fairerweise muss man dem ungeliebten Karl Theodor aber auch ein paar gute Seiten zugestehen. Er milderte die damals noch allgemein übliche Folterpraxis, verbesserte die Stellung der unehelichen Kinder, machte das sumpfige Freisinger Moos für eine Armensiedlung urbar, öffnete den Hofgarten für die Allgemeinheit, legte der eigenen Zensurbehörde Fesseln an – wenigstens zeitweise.

       Im Ehebett ging es „nicht ganz gut“

      Sei’s drum. Der Kurfürst mag nicht der menschenverachtende Popanz gewesen sein, den man zu Lebzeiten und auch noch später aus ihm machte – für die taufrische Italienerin kam die Ehe mit dem abgetakelten Lebemann einem Fegfeuer gleich. „Was schickt der Herr aus Mailand?“, sangen die Münchner. Maria Leopoldines Vater war der Erzherzog von Modena in der Lombardei, ein Sohn der Kaiserin Maria Theresia, er residierte in Mailand und hatte dort das berühmte Teatro della Scala gebaut. Eheschließungen in diesen Kreisen hatten wenig mit Liebe zu tun, dafür umso mehr mit Politik.

      Maria Leopoldine, ein aufgewecktes, manchmal wildes Kind, verbrachte eine glückliche Jugend am Mailänder Hof, musste aber früh begreifen, dass ihr junges Leben Manövriermasse