Vorgeschichte des Ketzerprozesses klingt peinlich genug: 1819 sollte der angesehene Theologe und enorm produktive geistliche Schriftsteller Johann Michael Sailer nach dem Willen des bayerischen Königs Bischof von Augsburg werden. Der Päpstliche Nuntius Severoli hintertrieb die Ernennung, gestützt auf Klatsch, Gerüchte, Anklagen vom Hörensagen. Beim Wiener Redemptoristenpater Clemens Maria Hofbauer – ein begnadeter Seelsorger und liebenswürdiger Sozialapostel, aber leider auch ein schrecklich engherziger Mensch – gab er ein Gutachten in Auftrag, das Sailer den Hals brechen sollte.
„Er ist ein Christ, aber so viel ich weiß, will er von der Form nichts wissen“, entrüstete sich der biedere Ordensmann, der von Sailers zahllosen Schriften – anspruchsvolle theologische Abhandlungen, pädagogische Handreichungen, Meditationen, Gebetbücher, insgesamt 194 Titel umfasst die Gesamtausgabe – wohl nur die eine oder andere gekannt hat. „Mystizismus“ wirft er ihm vor und Freundschaft mit Protestanten.
Tolerant: Bischof Johann Michael Sailer
Hofbauer: „Ich weiß bestimmt, dass Sailer gesagt hat, die Kirche habe kein Monopol auf den Heiligen Geist, dieser wirke ebenso viel in denen, die in der heiligen Kirche sind, wie in jenen, die außer ihr sind, wenn sie nur an Christus glauben.“ Und dann: „Gesehen habe ich Sailer nur einmal und war damals nur eine halbe Stunde bei ihm; denn ich hatte Angst, länger bei ihm zu verweilen, da ich von seinen Schülern schon so viele Nachrichten hatte, die mich schaudern machten.“
Keine Belege, keine nachprüfbaren Zitate, keine Angabe von Zeugen. Eine klassische Denunziation aus Angst und geistiger Enge. Dass Sailers Schüler und Bewunderer, König Ludwig I., dem Verfemten wenige Jahre später doch noch einen Bischofsthron verschaffte, in Regensburg, gegen erbitterten Widerstand römischer und deutscher Fundamentalisten, kann als späte Rehabilitation gelten. Doch 1873, als Sailer bereits 41 Jahre tot war, sannen die Redemptoristen auf eine Seligsprechung ihres Mitbruders Hofbauer. Als Stolperstein lag sein bitterböses Statement über Sailer im Weg.
Erpresser und Arme Seelen
Um Hofbauer vom Verdacht zu reinigen, mit seinen Attacken das Gebot der christlichen Liebe und Wahrhaftigkeit verletzt zu haben, verfiel der Orden auf die famose Idee, den toten Sailer zum Ketzer (und Hofbauer damit automatisch zum prophetischen Warner) erklären zu lassen. Wie Hubert Wolf recherchiert hat, mobilisierte man eine in katholischen Traditionalistenkreisen angehimmelte Seherin namens Aloysia Beck, die sich mit Visionen von Armen Seelen, Engeln und Dämonen einen Namen gemacht hatte und abergläubische Gemüter dazu animierte, bei ihr Lebensbeichten abzulegen.
Zu den hohen Klerikern, die sich mit solchen Bekenntnissen abhängig von dem frommen Medium gemacht hatten, gehörte Sailers Nachfolger auf dem Regensburger Bischofsthron, Ignatius von Senestrey, ein ängstlicher Erzkonservativer, hoch verschuldet und wegen irgendwelcher delikater Verstrickungen, über die Kirchenhistoriker bis heute rätseln, in der Hand von Erpressern. Senestrey tat, was man von ihm wollte: Er beantragte bei Papst Pius IX. einen Ketzerprozess gegen seinen Vorgänger, und der Papst persönlich – was ungewöhnlich war – beauftragte die Inquisitionsbehörde, das Heilige Offizium, mit dem Verfahren.
Doch obwohl der Papst die Causa Sailer zur Chefsache gemacht hat, obwohl Senestreys Gutachter 105 angeblich häretische Sätze aus Sailers Werken zusammenträgt, durchschauen die Theologen, Juristen und Kardinäle der Glaubensbehörde das Spiel: Sie geben sich mit diesem Material nicht zufrieden, fordern ein neues Gutachten durch einen Zensor aus den eigenen Reihen, holen die Meinung deutscher Bischöfe ein, die zwar hundertprozentig romtreu sind, aber den toten Amtsbruder verteidigen und vor der Verurteilung eines deutschen Paradekatholiken mitten im Kulturkampf mit Bismarck warnen. Es gibt zwar keinen Freispruch, damit hätte man den Papst brüskiert, aber die Akten verschwinden ganz hinten im Archivkeller, wo sie so schnell niemand finden wird.
Ein Pionier der religiösen Toleranz
So viel hysterischen Verfolgungseifer hatte Johann Michael Sailer weiß Gott nicht verdient. Als Pastoral- und Moraltheologe und Pädagoge an den Universitäten Dillingen, Ingolstadt und Landshut baute der 1751 als Sohn eines Dorfschusters in Aresing bei Schrobenhausen geborene Vordenker dem von Aufklärern und Traditionalisten verunsicherten Katholizismus Brücken in die Zukunft. Er kämpfte gegen jene blassen Rationalisten, die Religion mit einer „Vernunftmoral“ verwechselten und in Christus bloß einen „Tugendfreund“ (Sailer) sehen wollten. Aber er kannte keine Berührungsängste gegenüber liberalen Strömungen und nahm gute Entwicklungen gern auf.
Dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärer stellte er ein vitales, überzeugendes Christentum gegenüber. „Wo die Seele nach Totenaas riecht“, so charakterisierte er in seiner bildhaft-drastischen Sprache die blutleeren Theorien dieser Leute, „da mag ihre Kenntnis Gottes wohl nicht mehr sein als eine leere Büchse mit der Aufschrift: Gott.“ Inbegriff christlichen Glaubens war ihm vielmehr eine Liebe, „rein und sicher vor Kopfhängerei, Menschenscheu, finsterer Laune, rein und sicher vor Scheinheiligkeit und Heuchelei“.
Seinen Theologiestudenten vermittelte er die Idee der „lebendigen Überlieferung“ und ein organisches Kirchenverständnis: Die sichtbare Kirche mit all ihren Stärken und Schwächen und ihr von Christus getragenes, vom Geist beseeltes Innenleben bilden eine pulsierende Einheit. Mit solchen Gedanken sollte er die katholische Moderne prägen. Und natürlich auch mit seiner Orientierung an der Bibel, die zu seiner Zeit vielen Pfarrern und Priesteramtskandidaten – man möchte es kaum glauben – ein böhmisches Dorf war.
Lass alle Bücher fahren, auch die besten, und lies allein das Neue Testament!“
Seine Leidenschaft für die Wahrheit, wie er sie in der katholischen Tradition fand, verband Sailer mit der unbedingten Achtung vor der Religionsfreiheit: „Heilig sei dir wie dein Gewissen und unantastbar die Freiheit des andern!“ Religion sei Liebe, und die sei ihrer Natur nach liberal. „Der weise Mann in dem Seelsorger“ sehe „in jedem ehrlichen Genossen einer fremden Religion“ einen Funken der in Christus erschienenen ewigen Religion.
Wichtiger als enger Konfessionalismus war ihm eine lebendige Beziehung zu Christus. Für Sailer ist die Kirche Christi in der römisch-katholischen Kirche zwar anzutreffen, beide sind aber nicht einfach identisch. Deshalb ist die römisch-katholische Kirche ständig aufgerufen, sich zu verchristlichen. Katholisches Selbstbewusstsein kann deshalb nur jene Demut bedeuten, „die darum weiß, trotz menschlichen Versagens Treuhänderin einer Wahrheit und Gnade sein zu dürfen, die sie nicht besitzt, sondern nur dienend austeilt“. Damals, als Ökumene und interkonfessioneller Dialog noch Fremdwörter waren, machte man sich mit solchen Gedanken enorm verdächtig.
Ein Haus, viele Wohnungen, sagt Christus von dem Himmel. Ein Haus, viele Stockwerke, gilt von der Kirche.“
„Wer in seinem Stockwerke den Mittelpunkt gefunden hat, wird aufhören, für das bloße Stockwerk zu fechten, weil er genug zu tun hat, für den Mittelpunkt zu leben – und in dem Mittelpunkte.“
„Ich buchstabiere selber noch an der Wahrheit“
Ein wilder Aufklärer ist er nie gewesen. Mit dem Jahrhundert Schritt zu halten, ist für ihn kein Wert an sich. Was sind schon weltanschauliche Moden und die jeweils neuesten wissenschaftlichen Systeme? „Im Tode fahren sie auf einer Sandbank auf.“ Im stürmischen Wellengang der Zeit gebe letztlich nur ein Leuchtturm verlässliche Orientierung: das Evangelium. Sailer spöttelt über trendbewusste Gelehrte, die im alten China und im neuen Paris Perlen der Weisheit entdecken, nur nicht in Nazaret und Rom, und er wehrt sich gegen die Herabstufung Christi zu einem edlen Menschen. Nein, er ist der Retter, der unser Herz verwandelt.
Die