Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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      GÉRALDINE SCHWARZ

      DIE GEDÄCHTNISLOSEN

      Erinnerungen

      einer Europäerin

      Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

      LES AMNÉSIQUES

      © 2017 Flammarion, Paris

      Dieses Buch erscheint im Rahmen

      des Förderprogramms des Institut français.

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      Erste Auflage dieser aktualisierten Ausgabe

      © 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

      Alle Rechte vorbehalten

      Übersetzung: Christian Ruzicska

      Lektorat: Joachim von Zepelin

      Korrektorat: Rotkel Textwerkstatt

       www.secession-verlag.com

      Gestaltung und Typografie: Erik Spiekermann

      ISBN 978-3-906910-76-5

      eISBN 978-3-906910-31-4

       1Nazi oder Nicht-Nazi sein

       2Deutschland im »Jahre Null«

       3Das Phantom der Löbmanns

       4Die Leugnung des Karl Schwarz

       5Oma oder der diskrete Charme des Nationalsozialismus

       6Kind von Mitläufern

       7Von der Verdrängung zur Besessenheit

       8Süßes Frankreich …

       9Der Holocaust? Sagt mir nichts.

       10Der Pakt

       11Erinnerungen einer Deutsch-Französin

       12Die Mauer ist tot, es lebe die Mauer!

       13Österreich und Italien – kleine Übereinkünfte mit der Vergangenheit

       14Nazis sterben nie

      Für meine Eltern

      VERWORREN IST DAS LABYRINTH des Gedächtnisses, leicht verliert man sich in seinen Versäumnissen und Lügen, in seinen toten Winkeln und in der überwältigenden Fülle seiner Irrungen.

      Schwer zu bezwingen sind die Manipulatoren der Erinnerung, die Verfälscher der Geschichte, die Konstrukteure falscher Identitäten, die Schürer von Hass und die Züchter nazistischer Fantasien.

      Ich muss meinen Weg im Dickicht der Vergangenheit finden, die Fäden aufgreifen, die meine Familiengeschichte bietet: die Erinnerungen einer gewöhnlichen deutschen und einer gewöhnlichen französischen Familie, ein Mitläufer der Nazis hier, ein Gendarm im Dienste von Vichy dort.

      Diesen Fäden folge ich durch alle Risse und Lücken hindurch, von meinen Großeltern über die Generation meiner Eltern bis hin zu mir, einem Kind Europas, dem der Geruch des Krieges fremd ist. Und ich verwebe sie mit den Spuren der großen Geschichte, dem Suizid der europäischen Zivilisation – und dem, was darauf folgte: die grandiose Erhebung der Menschen über ihre Dämonen, des Friedens über den Krieg, der Demokratie über die Diktatur.

      Es gilt, das Gedächtnis einer Familie dem Urteil der Weisheit der Historiker zu unterwerfen, diese Lügen- und Mythenjäger. Der Wissenschaft ein wenig Seele einzuhauchen, ihr das Fleisch und Blut einer Familienerzählung zu verleihen und mit ihr die Unschärfe der Conditio humana.

      Ich will verstehen, was war, um zu wissen, was ist, Europa seine Wurzeln zurückgeben, die die Gedächtnislosen versuchen, ihm zu entreißen.

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       1Nazi oder Nicht-Nazi sein

      ICH WAR NICHT WIRKLICH dazu berufen, mich für Nazis zu interessieren. Die Eltern meines Vaters standen weder aufseiten der Opfer noch aufseiten der Täter. Sie zeichneten sich nicht durch mutige Bravourakte aus, hatten sich aber auch nicht in blindem Eifer versündigt. Sie waren schlichtweg Mitläufer, Menschen, die »mit dem Strom schwammen«. Schlichtweg im Sinne einer Haltung, die der Mehrheit der Deutschen entsprach, einer Akkumulation kleinerer Blindheiten sowie feigherzigen und konformistischen Verhaltens, die in ihrer Summe die notwendige Voraussetzung für die schlimmsten staatlich organisierten Verbrechen schuf, die die Menschheit je erlebt hat. Nach der Niederlage und den auf sie folgenden Jahren fehlte meinen Großeltern wie den meisten Deutschen der nötige Abstand zur Einsicht, dass ohne die Teilhabe der Mitläufer, die auf individueller Ebene noch so gering ausgefallen sein mochte, Hitler nicht imstande gewesen wäre, Verbrechen solchen Ausmaßes zu verüben.

      Der Führer selbst ahnte dies und fühlte seinem Volk regelmäßig den Puls, um zu prüfen, wie weit er gehen konnte, was gerade noch ging und was nicht mehr, wobei er das Land zugleich mit antisemitischer und nationalsozialistischer Propaganda überschwemmte. Die erste in Deutschland organisierte, groß angelegte Judendeportation, die dazu dienen sollte, die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung auszuloten, fand im Südwesten statt, genau in jener Gegend, in der meine Großeltern lebten: Im Oktober 1940 wurden mehr als 6.500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Frankreich in das nördlich der Pyrenäen gelegene französische Internierungslager Gurs deportiert. Um die Bürger an ein solches Schauspiel zu gewöhnen, waren die Ordnungskräfte darauf bedacht, den Schein zu wahren, vermieden also Gewalt und setzten statt der später verwendeten Güterwaggons reguläre Reisezüge ein. Um Gewissheit darüber zu erlangen, mit wie viel Widerstandsgeist sie beim Volk zu rechnen hatten, schreckten die verantwortlichen Nazis nicht davor zurück, am helllichten Tage zu agieren, und trieben Gruppen mit Hunderten von Juden, beladen mit schweren Koffern, weinende Knirpse Seite an Seite mit erschöpften Greisen, durch die Innenstädte bis zum Bahnhof – und alles unter den Augen apathischer Bürger. Am nächsten Morgen ließen die Gauleiter stolz in Berlin verkünden, dass ihre Region als erste in Deutschland »judenrein« war. Der Führer dürfte sich gefreut haben, von seinem Volk so gut verstanden zu werden: Es war reif mitzulaufen.

      Nur eine Episode, leider die einzige, hatte später gezeigt, dass das Volk nicht so machtlos gewesen war, wie es nach dem Krieg glauben machen wollte. 1941 konnten protestierende deutsche Bürger gemeinsam mit katholischen und protestantischen Bischöfen jenes Vernichtungsprogramm geistig und körperlich behinderter Menschen – oder solcher, die dergestalt eingestuft wurden – unterbrechen, welches Adolf Hitler