Tusche- und Aquarellzeichnung hatte anfertigen lassen, lässt mich ratlos zurück. Mein Großvater war kein überzeugter Nationalsozialist, dafür war er viel zu sehr in seine Freiheit verliebt. »Er hatte sie vielleicht im Büro der Firma aufgehängt, da gelegentlich vorbeischauende Kunden oder Nazi-Funktionäre dann weniger Fragen stellten und ihn in Ruhe ließen«, sagt mein Vater. In den Dreißigerjahren kursierten überall in Deutschland Gerüchte über Kaufleute, die verdächtigt wurden, ihre jüdische Abstammung zu verschleiern, womit eine Atmosphäre der Paranoia und Denunziation in einem Grade genährt wurde, dass einige dieser Händler sogar Anzeigen in Zeitungen schalteten, um jegliche Verbindung zum Judentum öffentlich zu dementieren. Opa hatte seinen Arier-Nachweis verschwinden lassen, merkwürdigerweise aber sein Aquarell verschont und bis zu seinem Tode aufbewahrt. »Ich denke, dass ihm diese Zeichnung gefiel, da sie die Illusion der Abstammung von einem glorreichen Geschlecht gewährte. Und mein Vater träumte gern von solcher Größe.« In gewisser Hinsicht war Karl Schwarz ein Mann seiner Zeit.
Angesichts der ungeheuren Dimension der Aufgabe, die sie sich gestellt hatten, entschlossen sich die Amerikaner, deutsche Behörden bei der Entnazifizierung einzubeziehen. Personen, die nach der Auswertung der Fragebögen einer tieferen Verstrickung verdächtig waren, mussten vor eine der deutschen Spruchkammern, von denen es einige Hundert gab. In Mannheim sichtete man 202.070 Formulare, danach wurden 169.747 Personen als »nicht betroffen« klassifiziert. Gegen insgesamt 8.823 Personen wurde bis zum September 1948 ein Spruchkammerverfahren eröffnet mit den folgenden Urteilen: 18 Hauptschuldige, 257 Belastete, 1.263 Minderbelastete, 7.163 Mitläufer, 122 Entlastete. Ich weiß nicht, ob mein Großvater vorgeladen wurde. Doch weil die Amerikaner aufgrund der Komplizenschaft vor allem der Juristen mit dem Nationalsozialismus nicht ausreichend viele »saubere« deutsche Richter vorgefunden hatten und sich also darin fügten, innerhalb der alten Garde zu rekrutieren, hatte Karl Schwarz ohnehin nicht besonders viel zu befürchten. Und dies umso weniger, als die Besatzer es sich angesichts des dringenden Personalnotstands nicht mehr erlauben konnten, kompromisslos vorzugehen, wenn sie gleichzeitig auch noch die wirklich zahlreichen drängenden Probleme anpacken wollten: Unterernährung, Wohnungsnot, Mangel an Kohle, um heizen zu können … Hinzu kamen die ersten Vorzeichen eines neuen Krieges, diesmal eines kalten, was die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf einen neuen Feind richtete: die Sowjetunion und den kommunistischen Block. Der anfänglichen Strenge folgte eine Nachlässigkeit bei der Entnazifizierung mit dem Ziel, diese so bald wie möglich abzuschließen, um den Wiederaufbau eines Westdeutschlands zu beschleunigen, das am Saum des feindlichen kommunistischen Territoriums gelegen war.
Die Briten setzten bei der Entnazifizierung ihrer Zone, die Hamburg, Niedersachsen, Westfalen, den Norden der Rheinprovinz, Schleswig-Holstein und den Sektor in der Mitte Berlins zwischen dem französischen im Norden und dem amerikanischen im Süden umfasste, weniger als die Amerikaner auf Strafe. Sie zielten vor allem auf eine Umerziehung mithilfe neu gegründeter Medien, darunter dem Nordwestdeutschen Rundfunk und Zeitungen wie Die Zeit und Die Welt. Manchmal wurde diese auch mit eiserner Faust durchgesetzt, so etwa in der westfälischen Stadt Burgsteinfurt, wo der britische Stadtkommandant die Bevölkerung dazu verpflichtete, sich ein filmisches Dokument über die Gräuel anzusehen, welche die Befreier der KZS gefilmt hatten. Nach englischem Vorbild entstanden Klubs, in denen Deutsche und Briten einander begegnen konnten. Das Verhältnis jedoch zwischen Bevölkerung und Besatzern blieb vornehmlich kühl, anders als in der amerikanischen Zone, wo man engere Verbindungen miteinander einging. Die Briten wurden als »Kolonialmacht« empfunden. Sie etablierten eine Parallelwelt für ihre eigenen Bedürfnisse, nutzten eigens ihnen vorbehaltene Waggons, Läden und Kinos, an denen Schilder mit der Aufschrift »Keep out« und »No Germans« angebracht waren. Sie beschlagnahmten Wohnungen, was wiederum bei der deutschen Bevölkerung angesichts der bitteren Wohnungsnot wütende Reaktionen hervorrief. Aber der Krieg hatte die Briten selbst volkswirtschaftlich äußerst geschwächt und sie hatten schon Mühe, allein die Kosten der Besatzung zu finanzieren. Sie gaben schließlich ihr Ziel auf, die deutsche Gesellschaft zu läutern, und begnügten sich damit, nur Nationalsozialisten aus höheren öffentlichen Ämtern zu entlassen und die großen Fische zu belangen. Das geschah in einem Maße, dass namhafte Nazis aus der amerikanischen Zone sich schleunigst mühten, in die britische zu gelangen. Die Engländer wollten vor allem die Wirtschaftskraft Deutschlands schnellstmöglich wiederherstellen, auch in ihrem eigenen Interesse. Darum waren sie kompromissbereit, wenn ein Angeklagter zur Wirtschaftselite im Reich zählte, wie zum Beispiel Günther Quandt.
Quandt war kein überzeugter Nationalsozialist, sondern ein Opportunist, der abgewartet hatte, bis Hitler im Januar 1933 an die Macht gekommen war, um dann erst dessen Partei zu finanzieren und ihr beizutreten. Zu dieser finanziellen Nähe fügte sich eine familiäre, da die zweite Ehefrau des Industriellen, Magda Ritschel, von der er sich einige Jahre nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Harald hatte scheiden lassen, im Dezember 1931 den zukünftigen Propagandaminister Joseph Goebbels heiratete, eine Eheschließung, bei welcher der Führer als Trauzeuge anwesend war. Zwar geriet Quandt mit Goebbels wegen der Betreuung seines Sohnes in Konflikt, doch zahlte sich seine Loyalität gegenüber Hitler aus. Quandt häufte ein kolossales Vermögen an, indem er zu einem der größten Ausrüster der Militärindustrie wurde. Er beutete rund 50.000 Zwangsarbeiter aus, die zu Niedrigpreisen vom Reich »geliehen« wurden, um den massiven Mangel an Arbeitskräften auszugleichen, der der Mobilmachung der Männer für den Einsatz an der Front geschuldet war. 1946 verhafteten die Amerikaner Quandt, jedoch entkam er den Nürnberger Prozessen dank der Engländer, die es »versäumten«, den Amerikanern die ihn belastenden Papiere auszuhändigen, und die seine Schuld so bedeutungslos erscheinen ließen, dass sie ihn schließlich als Mitläufer klassifizierten.
Im Januar 1948 setzten ihn die Amerikaner, ohne nähere Nachforschungen zu betreiben, auf freien Fuß. Wenig später wickelte die britische Armee mit ihm Rüstungsgeschäfte ab. Denn Quandt stellte technische Ausrüstungen her, die ihm die ganze Welt neidete, insbesondere die einzigartige Batterie für die »Wunderwaffe«, die von den Nazis während des Krieges entwickelt worden war und den Respekt der Feinde auf sich zog: die V2, die erste vom Menschen erschaffene ballistische Rakete. Nach dem Krieg weigerte sich die Familie Quandt – heute unter anderem größter Aktionär des Automobilherstellers BMW – lange Zeit, Auskunft über die suspekten Quellen ihres Vermögens zu geben, bis schließlich 2007 die Ausstrahlung des NDR-Dokumentarfilms Das Schweigen der Quandts sie dazu zwang, ihre Vergangenheit offenzulegen.
Auch die Franzosen, deren Zone als kleinste den Süden Baden-Württembergs, Rheinland-Pfalz, das Saarland und den Nordwesten Berlins umfasste, wurden sich schnell der Vorteile bewusst, wenn man sich den Industriellen gegenüber als nachsichtig zeigte. Als Dank dafür ließen sich Geschäfte viel leichter abwickeln. Ganz allgemein hatten sich die Franzosen den Ruf erworben, von allen Besatzungsmächten diejenige zu sein, die am wenigsten an einer Entnazifizierung interessiert war. Dass Frankreich eng mit dem Dritten Reich zusammengearbeitet hatte und seine Verwaltung nach dem Krieg noch immer gespickt war mit ehemaligen Kollaborateuren des Vichy-Regimes, denen es davor graute, die Anklagen gegen die Nazis könnten sich auch gegen sie wenden, war sicherlich einer der Gründe, warum die Zahl der Gerichtsverfahren sich in einem sehr begrenzten Rahmen hielt. General de Gaulle, der nach dem Krieg Frankreich regierte, befürwortete eine dauerhafte Teilung des Landes und ein Maximum an Reparationsleistungen. Trotz der Kollaboration mit dem Dritten Reich in letzter Minute an den Tisch der Sieger geladen, verhielten sich die Franzosen wie eine wahrhafte Besatzungsmacht, konfiszierten Wohnungen, um französische Lehrer, Ingenieure und Beamte unterzubringen, und beschlagnahmten Lebensmittel in Hülle und Fülle, während viele Deutsche in den Kellern lebten, hungrig und ohne Kohle zum Heizen. Es gab selbst Serienschändungen und Plündereien.
In der sowjetischen Zone, zu der die fünf östlichsten Länder zählten – Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie der Osten Berlins –, gingen die Besatzungsbehörden rigoros an die Entnazifizierung heran. Allerdings zielte die Verfolgung nicht nur auf Nazis, sondern auch auf alle »Unerwünschten«, die man loswerden wollte, sogenannte »Klassenfeinde«, darunter vor allem ehemalige Junker, Großgrundbesitzer und die Wirtschaftselite sowie nicht zuletzt Sozialdemokraten und andere Kritiker der Besatzungsmacht, die versuchte, ein Staatssystem nach sowjetischem Vorbild zu installieren. Die Nazis dieser Zone hatten mehr zu befürchten als in den drei anderen Zonen, auch weil sie sich