Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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auf den 15. Mai 1943 datiert, das heißt fast zwei Jahre nach dem Schaden, vor allem aber inmitten des Zusammenbruchs, in dem sich das Dritte Reich bereits befand, und ich finde es ziemlich faszinierend, dass aller chaotischen Zustände zum Trotz die deutsche Bürokratie weiterhin mit einer solchen Präzision funktionierte.

      Der verheerendste Angriff war jener in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1943. In nur wenigen Stunden warf eine Flotte von 605 Maschinen der Royal Air Force 150 Minen, 2.000 Sprengbomben, 350.000 Brandbomben sowie 5.000 mit weißem Phosphor bestückte Bomben ab. Die Stadtbewohner flüchteten sich in die etwa 52 großräumigen Bunkeranlagen, die mehr als 130.000 Personen Schutz boten. Es ist dieser Infrastruktur zu verdanken, dass die Anzahl der zivilen Opfer der Bombardements auf etwa 1.700 Tote in Mannheim beschränkt blieb, verhältnismäßig wenige also, bedenkt man die Massivität der Angriffe. Als am 6. September die Bewohner wie Zombies aus ihren unterirdischen Verstecken hervorkletterten, war das Stadtzentrum nur mehr Schutt und Asche, brennende Ruinen. Der gesamte Komplex der Gesellschaft für Mineralölprodukte meines Großvaters, dessen Lage sich in unmittelbarer Nähe zum Hafen befand, war ausgebrannt. Das Gebäude auf der Chamissostraße hatte ebenfalls Schaden genommen, der im Keller eingerichtete und den Einwohnern als Schutzraum dienende Bunker jedoch hatte standgehalten. Seine Grundfesten existieren im Übrigen heute noch – große, in die Decke eingezogene Stahlbalken sowie eine hermetisch verschließbare Panzertür, die so unglaublich schwer ist, dass ich sie als kleines Kind gar nicht allein öffnen konnte, wollte ich aus dem Keller Marmelade holen. Es war meine Tante Ingrid, die mir Jahre später erklärte, dass mit Beginn des Krieges die NSDAP Männer geschickt hatte, um den Keller in einen Privatbunker umzubauen, was ein Privileg gegenüber all jenen war, die in den öffentlichen Bunkern Schutz suchen mussten.

      Zum Zeitpunkt des Angriffs vom September hatte meine Oma, wie viele andere Frauen und Kinder, die vor den immer häufigeren Bombardierungen Schutz gesucht hatten, Mannheim bereits mit der sechsjährigen Ingrid und meinem eben erst geborenen Vater verlassen. »Er war ein krankes Kind, er hatte Bronchitis und wollte einfach nicht aufhören zu husten«, berichtet meine Tante. »Der Doktor hatte zu uns gesagt: ›Bei all dem Staub aus den Ruinen sollten Sie die Stadt besser meiden!‹« Ihr erstes Ziel war dann der Odenwald, eine hübsche, hügelige Landschaft direkt hinter Mannheim. »Wir lebten bei zwei alten Fräuleins, die bald schon die Nase voll hatten von dem schreienden Baby. Also hatten sie zu meiner Mutter gesagt: ›Lydia, du musst woandershin, das ist uns zu viel.‹« Ihr Weg führte sie weiter nach Franken zu den Eltern von Karl Schwarz. »Das waren arme Bauern, die schon drei Kinder ernähren mussten. Wir lebten auf engstem Raum miteinander, und da es gar nicht genug Teller gab für alle, steckten wir unsere Löffel einfach direkt in einen mitten auf den Tisch gestellten Kessel, ich fand das ulkig.« Davon weitaus weniger amüsiert war allerdings Oma, die es nicht mehr ertrug, sich noch länger aufzudrängen, und die bald schon dem Bürgermeister des kleinen Marktfleckens damit drohen sollte, »Dummheiten zu begehen«, falls er nicht schnellstmöglich eine Unterkunft für sie finden sollte. »Ich hatte sie begleitet, und sie sagte zu ihm so etwas Furchtbares wie: ›Ich hänge mich auf oder werfe mich mit meinen Kindern in den Fluss‹«, erinnert sich meine Tante. Ein Bauer bot ihnen ein Zimmer an, im Gegenzug dafür musste meine Großmutter bei jedem Wetter hart auf den Feldern arbeiten und Tag für Tag die Kühe melken.

      Ich habe Fotos aus dieser Zeit des Exils gefunden, das sich über zwei Jahre erstrecken sollte. Ingrid mit ihren beiden blonden Zöpfen, leichtfüßig wie eine Gazelle in den grünen Hügeln, und mein Vater, sein hellblond leuchtendes Haar wie eine Mähne über seinem Puppengesicht tragend, wie er mühsam vor einem Gänsegehege herumkraxelt und strahlend offen lacht. Manchmal ist auch Opa auf diesen Negativen zu sehen, er kam sie jedoch selten in dieser Zeitspanne besuchen.

      Als 1939 der Krieg ausbrach, war Karl Schwarz 36 Jahre alt, wurde aber nicht einberufen, was neben seinem Alter vielleicht auch daran lag, dass die Kriegsanstrengungen des Reiches zunächst noch nicht so vieler Männer bedurften, nachdem die Wehrmacht ihre Schlachten in Polen, Skandinavien, den Beneluxländern und im Juni 1940 schließlich auch in Frankreich per Blitzsieg entschieden hatte. Der Auftakt zum Unternehmen Barbarossa am 22. Juni 1941 jedoch, das über drei Millionen Soldaten der Achsenmächte in den Ansturm auf die Sowjetunion entlang einer Front warf, die sich von der Ostsee bis hin zu den Karpaten zog – eine in der Militärgeschichte noch nie da gewesene Ausdehnung –, veränderte die Ausgangslage: Je tiefer das Dritte Reich in diesem soldatenfressenden Krieg stecken blieb, desto geringer wurde die Chance, dem Leidensweg an der Ostfront zu entkommen.

      Karl, ein Lebemann, der keinerlei Lust verspürte, in den eisigen Steppen Russlands den kleinen Soldaten des Nazi-Regimes zu spielen, musste sich von nun an geschickt anstellen, wollte er sich drücken. Seine Parteimitgliedschaft in der NSDAP als Trumpf allein stach nicht mehr. Er musste höhere Instanzen von der unbedingten Notwendigkeit seiner Anwesenheit in Mannheim überzeugen und ihnen klarmachen, dass er seine Geschäfte weiterhin betreiben musste. Werde seine Kundschaft der Mineralölprodukte beraubt, so mochte er argumentiert haben, bestünde die Gefahr, dass sie ihren Beitrag zur deutschen Wirtschaft nicht mehr leisten könne. Bedenkt man die sehr bescheidene Größe seiner Gesellschaft, sowie die Drosselung seiner Produktion während des Krieges und andererseits den dringlichen Mangel an Männern für die Front, muss Karl Schwarz ein außergewöhnliches Überzeugungstalent an den Tag gelegt haben, um von der Verpflichtung zum Dienst in der Wehrmacht freigestellt worden zu sein. Gut möglich, dass er bereits in ebendiesem Augenblick den Einfall hatte, die Wehrmacht zu seinem Kunden zu machen, indem er zweifelsohne einen für Letztere vorteilhaften Preis anbot. So machte er sich der Wirtschaft des Reiches nützlich.

      Bei den Behörden muss mein Großvater geahnt haben, dass, sollte denn überhaupt eine Chance bestanden haben, der Wehrmacht mit der Begründung entkommen zu können, die Firma benötige einen Geschäftsführer, diese dann nur für ihn oder seinen Partner gegolten hätte, keinesfalls aber für beide zugleich. Und gut möglich, dass er eben in diesem Moment und ganz nebenbei hatte durchsickern lassen, dass sein Partner Max Schmidt kein Parteimitglied war.

      Vom Frühling 1943 an lebte Karl allein, da Frau und Kinder inzwischen aufs Land gezogen waren. Die Abende müssen ein wenig traurig gewesen sein in dem halb leeren Gebäude auf der Chamissostraße, dessen Einwohner entweder aus der Stadt verbannt oder aber an der Front dem Tod und der Kälte trotzten, abgesehen von drei oder vier Seelen, die in dieser gespenstischen Kulisse diverser Wohnungen zusammenlebten, in deren Decken, Böden und Wänden Risse klafften und deren zerborstene Fenster mithilfe großer Kartonstücke abgedichtet worden waren. Um ein wenig Aufmunterung zu erfahren, begab sich mein Großvater in das Kabarett Eulenspiegel, auf der Langen Rötterstraße, einer kleinen Seitenstraße. Viele Kabaretts, Varietéhäuser und Theater des Dritten Reiches hatten bis zum 1. September 1944 ihren Betrieb fortgeführt, als schließlich Propagandaminister Joseph Goebbels deren Schließung anordnete. Bis dahin waren viele Künstler vom Armeedienst befreit, da ihre Rolle im Wesentlichen darin gesehen wurde, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den allgegenwärtigen Schreckensszenarien, in die Hitler sie zu stürzen im Begriffe war, abzulenken.