Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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Hitler seine Männer an, ihren Vormarsch bei eisigem Winter ohne jegliche Ausrüstung gegen die Kälte bis vor die Tore Moskaus fortzusetzen. Trotz Temperaturen von minus 50 Grad Celsius und ohne Handschuhe geschweige denn Mäntel, erteilte er ihnen den Befehl, um jeden Preis anzugreifen und ihre Position zu halten. »Wir wussten nicht, wo sich die Front befand. Wir knieten oder lagen im Schnee. Die Knie froren uns am Boden fest«, schrieb ein Wehrmachtssoldat in seinen Aufzeichnungen. Unfähig, Gräben in das harte Eis zu ziehen, um darin Schutz zu finden, starben die deutschen Soldaten wie die Fliegen, erschossen von russischen Kugeln oder erledigt von Kälte und Hunger. Ein Jahr später, der Warnhinweise seiner Generäle über den katastrophalen Zustand der Truppen zum Trotz, zwang der Führer die ausgemergelten Soldaten noch einmal zum Angriff, diesmal gegen Stalingrad – eine Offensive ohne jegliche Aussicht auf Erfolg, die darauf hinauslief, seine Männer in den sicheren Tod zu schicken. Die rund 220.000 Soldaten der 6. Armee wurden eingekesselt, sie trugen nichts als dünne Kleidung und litten unter beißendem Hunger. Nur etwa 6.000 kehrten in ihre Heimat zurück.

      In Nordafrika, einem weiteren Kriegsschauplatz, fiel die Opferbilanz für die Deutschen mit einigen Zehntausend Toten vergleichsweise niedrig aus, da Erwin Rommel, der als »Wüstenfuchs« gefeierte General, der die Offensive des Afrikakorps gegen die Briten leitete, den Mut besessen hatte, Hitler zumindest einmal nicht zu gehorchen. Bei der Schlacht von El Alamein hatte der Führer trotz der offensichtlichen logistischen Unmöglichkeit, den Feind zurückzudrängen, einen seiner gefürchteten Durchhaltebefehle gegeben: »Ihrer Truppe können Sie keinen anderen Weg zeigen als den zum Siege oder zum Tode.« Rommel, der seinem Chef gegenüber stets äußerst loyal gewesen war, wies jedoch alle beweglichen Einheiten an, sich zurück- und nach Westen abzuziehen. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, die den Niedergang des Reiches bestätigte, redete Rommel dem Führer zu, den Krieg doch zu beenden; er provozierte damit aber nur den Zorn eines Tyrannen, der von seinem maßlosen Machtstreben verblendet war. Wenig später wurde ihm unterstellt, er habe an einem fehlgeschlagenen Putsch der Offiziere gegen das Nazi-Regime teilgenommen. Erwin Rommel, dessen Kühnheit und Triumphe Deutschland jubeln und den Feind zittern ließen, erhielt den Befehl, sich umzubringen – und führte ihn auch aus.

      Ähnlich wie er versuchte am Ende des Krieges eine wachsende Zahl von Generälen, Hitler zur Vernunft zu bringen, aber der Führer beharrte unerschütterlich auf seiner Position und konnte sich dabei auch auf die anhaltende und nicht nachvollziehbare Unterstützung eines Teils des Oberkommandos stützen. Wenige Monate vor der Kapitulation, obgleich alle Hoffnung bereits verloren war, fiel den Anführern der Nazis in ihrem selbstmörderischen Wahn nichts Besseres ein, als den Kreis der potenziellen Opfer noch einmal zu erweitern, indem sie auch noch die wenigen, die als Kanonenfutter verblieben waren, einziehen ließen. Vor allem Jungen im Alter von 16 oder 17 Jahren und Männer über 45 Jahre bildeten den »Volkssturm«, der kaum bewaffnet die Städte verteidigen sollte, die längst nicht mehr zu verteidigen waren. Sie wurden skrupellos in den Tod geschickt, um das selbstherrliche Bild des Deutschen, das der Eitelkeit des Führers entsprach, bis zum Äußersten zu pflegen: entweder vollständiger Sieg oder totale Niederlage.

      Die Deutschen, die jene letzten Kriegsmonate durchlebten, erinnern sich an diese wie an eine Apokalypse. Das Land fiel in sich zusammen, brannte, explodierte, schrie, zerbrach und ging in einem Danteschen Inferno unter. Wie ein Löwe im Käfig umherirrend, versank Adolf Hitler in der bedrückenden Atmosphäre seines Bunkers unter der Berliner Reichskanzlei in einem trotzigen, selbstzerstörerischen Wahn und zog der Kapitulation den Untergang vor, in den er sein eigenes Volk zu stürzen trachtete, welches sich der nationalsozialistischen Revolution als »unwürdig« erwiesen hatte. Am 30. April schoss er sich, nachdem er seinen Hund getötet hatte, eine Kugel in den Kopf, und Eva Braun, seine Partnerin, die kurz vor seinem Tod zu heiraten er endlich eingewilligt hatte, vergiftete sich mit Zyankali. Am 1. Mai dann war es an seinem Propagandaminister, Joseph Goebbels, einem fanatischen Antisemiten, und seiner Frau Magda, einer besessenen Anhängerin des Nationalsozialismus, Zyankali zu schlucken, nachdem sie es zuvor ihren sechs Kindern verabreicht hatten, die in Propagandafilmen als hellblonde Engel dafür hatten herhalten müssen, die Deutschen innerlich zu rühren.

      Selbstmord verbreitete sich in dem Augenblick, da die Ankunft der Roten Armee unausweichlich erschien, wie eine Epidemie. Pastoren, vor allem in Berlin, waren wegen des Ansturms Gläubiger beunruhigt, die sie aufsuchten, um ihnen anzuvertrauen, dass sie stets eine Ampulle Zyankali bei sich trugen. Die Anzahl der Berliner, die sich in den letzten Kriegswochen das Leben nahmen, lag wahrscheinlich bei mehr als 10.000. In Demmin, einer kleinen, in Vorpommern gelegenen Stadt mit etwa 15.000 Einwohnern, die am 30. April von der Roten Armee erobert worden war, nahmen sich zwischen 500 und 1.000 Personen das Leben, darunter nicht wenige Frauen, die zuvor ihre eigenen Kinder umgebracht hatten. Andere Städte erlitten ein ähnliches Schicksal. Meine Tante erinnert sich an die Verzweiflung ihrer Mutter: »Die Amerikaner waren bereits im Lande und meine Mutter rief noch immer aus: ›Wir werden den Krieg nicht verlieren! Der Führer wird gewinnen! Wenn wir den Krieg verlieren, bringe ich mich um!‹«

      Dass Oma nicht zur Tat schritt, mag daran gelegen haben, dass ihr Schicksal im Vergleich zu anderen nicht ganz so furchtbar war. Nachdem sie das zu Ruinen zerfallene Stadtzentrum Mannheims durchquert hatte, muss ihr beim Anblick des noch stehenden Familienhauses ein schweres Gewicht vom Herzen gefallen sein. Aber um überleben zu können, reichte die eigene Bleibe nicht aus, erst recht nicht, wenn sie überall durchlöchert war. Ganze Wände, ein Stück der Bedachung und ein Teil der Treppe waren weggerissen und sämtliche Fenster in tausend Scherben zerborsten. Nach und nach kehrten die Mieter vom Land zurück, um sich wieder in ihren Wohnungen niederzulassen. Aber sie mussten diese mit jenen teilen, die alles verloren hatten. In Mannheim waren von etwa 86.700 Wohnungen nur 14.600 nicht von den Bomben getroffen worden. Angesichts der drückenden Wohnungsnot war bestimmt worden, dass mindestens acht Personen sich eine Wohnung der Größe wie im Gebäude auf der Chamissostraße teilen mussten, wobei jede etwa 90 Quadratmeter umfasste. Opa entkam der Reglementierung, da er vorgegeben hatte, sein Bruder Willy würde mit seiner Familie unter seinem Dach wohnen. Allerdings erinnert sich meine Tante, dass ihre Eltern regelmäßig Familienmitglieder, die in Not geraten waren, aufnahmen und sie selbst im Wohnzimmer hinter einem großen Laken schlafen musste, das als Vorhang diente. Im Erdgeschoss fand sich hingegen ein alter, allein lebender Junggeselle mit einer ganzen Flüchtlingsfamilie wieder. »Wir nannten die Flüchtlinge Rucksackdeutsche, wir konnten nur ahnen, dass sie einen wirklichen Albtraum hinter sich hatten«, sagt Ingrid.

      Die 12 bis 14 Millionen Vertriebenen aus dem Osten, denen die Heimat entrissen worden war, in der sie sich seit Generationen verwurzelt fühlten, gehörten zweifellos zu den am schwersten betroffenen deutschen Zivilisten. Insbesondere die aus den deutschen Ostgebieten waren unter furchtbaren Bedingungen vor der Ankunft der Roten Armee geflohen, die aufgebracht vom Anblick der von der Wehrmacht während ihres Rückzugs niedergebrannten Dörfer und vom Tod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen einen nicht gerade geringen Tatendrang verspürt haben dürfte. Mehr als 1,4 Millionen deutsche Frauen wurden vergewaltigt und Hunderttausende Männer in die Gulags gesteckt und zur Zwangsarbeit verdammt.

      In der Tschechoslowakei ging es weniger blutig zu, doch der erzwungene Fortzug von drei Millionen Deutschen war ebenfalls sehr schmerzhaft verlaufen. Im österreichisch-ungarischen Kaiserreich waren die Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren im Norden des Landes zu Wohlstand gelangt. Aber ihre Situation verschlechterte sich nach der Zerschlagung des Kaiserreichs im Jahr 1918, als ein neuer unabhängiger tschechoslowakischer Staat seine deutschsprachige Minderheit zu diskriminieren begann.

      Die Notwendigkeit beschwörend, seinen »Blutsbrüdern« zu Hilfe eilen zu müssen, annektierte Hitler das Sudetenland im Oktober 1938 unter den Bravorufen einer überwiegenden Mehrheit der örtlichen Bevölkerung, die erst gar keine Zeit verlor, nun ihrerseits die Tschechen zu diskriminieren und aus der Region zu vertreiben. Nach der Niederlage des Reiches wechselte die Rache wieder die Seiten, und nun war es an den Deutschen, auf die Straße gesetzt und wie Aussätzige verjagt zu werden, wobei Tausende vor Erschöpfung starben oder ermordet wurden. Der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš ordnete per Dekret an, dass sämtliche Güter der Deutschen »beschlagnahmt«, sprich gestohlen werden sollten. 2002 verurteilte der tschechische Präsident Václav Havel diese Vertreibungen öffentlich.

      Der Empfang