weitere Form der Stigmatisierung und Isolation der Juden bestand im Aufruf zum Boykott ihrer Läden. In vielen deutschen Städten gab es schon bald nach der »Machtergreifung« kleinere Aktionen: SA- und SS-Männer standen vor den Türen jüdischer Geschäfte, um die Kundschaft abzuschrecken. Voller Ungeduld stimmten sich auf lokaler Ebene Vertreter der NSDAP und andere Nazi-Organisationen miteinander ab, um endlich zur Tat schreiten zu können und für den 1. April 1933 einen nationalen Tag des Boykotts aller jüdischen Geschäfte auszurufen. Schon Tage zuvor druckten die Zeitungen unablässig Boykottaufrufe und Plakate. Quer durch das gesamte Land stellten sich Mitglieder der SS und SA in Uniform vor jüdische Geschäfte, um Kundschaft beim Betreten derselben zu behindern, Schaufenster mit antisemitischen Botschaften vollzuschmieren, Reden an die Menge zu halten oder Spruchbänder zu schwingen, auf denen geschrieben stand: »Deutsche, wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« An diesem Samstag hatten viele Läden und Kaufhäuser, da sie vorgewarnt waren und weil orthodoxe Juden den Sabbat feierten, ihre Türen verschlossen gehalten und ihre Jalousien heruntergelassen. Andere wurden verwüstet und ausgeplündert, Juden zusammengeschlagen. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht aktiv mitgemacht hatte, zeigte sich, dass die Nazis nicht mit Widerstand rechnen mussten.
Wenige Monate später, so erläutert Christiane Fritsche, ließ das Reichswirtschaftsministerium die Industrie- und Handelskammer wissen, dass eine »Unterscheidung zwischen arischen oder nicht rein arischen Firmen innerhalb der Wirtschaft nicht durchführbar« sei, denn eine »solche Unterscheidung mit dem Zwecke einer Boykottierung nicht arischer Firmen (würde) notwendig zu erheblichen Störungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus führen«. Diese Angst vor Arbeitslosigkeit war einer der Gründe, warum das NS-Regime zunächst nicht per Gesetz gegen Juden in der Wirtschaft vorging, erklärt die Historikerin. Bis Mitte der Dreißigerjahre beteuerten daher Reichsminister und NS-Größen immer wieder, »dass es kein Sondergesetz gegen Juden in der Wirtschaft geben werde und dass Übergriffe gegen jüdische Betriebe zu unterbleiben hätten«. Dieses Signal jedoch wurde auf lokaler Ebene nicht respektiert.
Eines der wirkungsmächtigsten Instrumente in Mannheim war die örtliche Nazi-Zeitung Hakenkreuzbanner, die tagtäglich dazu aufrief, die 1.600 jüdischen Geschäfte der Stadt zu boykottieren, indem sie deren Namen und Adressen bekannt gab, ja, manchmal sogar jene ihrer Kunden, die sie weiterhin aufsuchten und dafür der Illoyalität gegenüber dem Führer bezichtigt wurden. Christiane Fritsche, die Tausende Seiten dieser Tageszeitung durchforstet hat, fand in ihr »praktische Tipps«, welche das Hakenkreuzbanner den Ehemännern erteilt hatte, um ihre Frauen davon abzubringen, weiterhin bei Juden einzukaufen. Sie sollten ihnen drohen, das Haushaltsgeld zu kürzen: »Wenn Du zum Juden läufst, weil er angeblich billiger ist, dann brauchst Du auch nicht so viel Haushaltsgeld, als wenn Du bei einem anständigen deutschen Kaufmann kaufst.« Die Zeitung drohte ebenfalls damit, die Namen der »Judenliebchen« zu veröffentlichen, von Frauen also, die angeblich Beziehungen mit Juden unterhielten. Diese Einschüchterungskampagnen konnten in Städten mittlerer Größe wie Mannheim mit damals etwa 280.000 Einwohnern greifen, da die Bürger eine öffentliche Verunglimpfung mehr fürchten mussten als in einer anonymen Großstadt wie Berlin.
Eine weitere Methode zur Hetze bestand nach Fritsche darin, Gerüchte über den hygienischen Zustand in der Küche eines jüdischen Restaurants oder die sexuellen Vorlieben eines jüdischen Firmenchefs in Umlauf zu bringen. In einigen Fällen führte dies sogar bis zu den Schmutzprozessen, die auf Grundlage falscher Anklagen wegen Gaunerei, sexueller Belästigung oder Hehlerei geführt wurden. Jüdische Unternehmer waren häufig von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen und wurden daran gehindert, ihre Produkte auf Messen auszustellen. Andere lokale Direktiven verboten Juden, ihre Schaufenster in der Vorweihnachtszeit mit »christlichen« Dekorationen zu schmücken, also mit Engeln, einem Weihnachtsbaum oder einer Krippe, was darauf hinauslief, ihnen ein »nicht arisches« Etikett zu verpassen, womit ihre Umsätze während dieser Hochsaison noch einmal deutlich gesenkt wurden. Das Hauptaugenmerk galt den großen jüdischen Kaufhäusern, von denen es in Mannheim vier gab. Die Stadt verbot ihren Beamten sogar unter Androhung von Strafe, in diesen Häusern einzukaufen. 1936 waren bereits drei von ihnen wegen finanzieller Notlage an »Arier« veräußert worden.
»Ich glaube, dass die Löbmanns dem Schlag standhielten, da ich mich nicht erinnern kann, bei meinen Besuchen einen Wandel in ihrer Lebensführung bemerkt zu haben. Das heißt, sie lebten bescheiden, sie waren verhältnismäßig religiös, religiöser als wir«, berichtet Lotte Kramer. Da die Löbmanns keinen Einzelhandel betrieben, waren sie von dieser Hexenjagd wahrscheinlich in einem geringeren Maße betroffen als andere. Ihre Kundschaft war weniger sichtbar als jene, die durch die Türen eines Schneiders oder Bäckers ging, und ließ sich daher nicht so leicht von angedrohten Verleumdungen abschrecken. Aber eben nicht alle, denn der von 1933 an sichtbare Einsturz der Umsatzzahlen der Firma Siegmund Löbmann & Co., deren Auflistung ich in Opas Papieren gefunden habe, zeigt, dass auch diese unter der Illoyalität einiger Kunden gelitten hatte, sei es aus Angst oder aus Antisemitismus.
Anfangs noch schöpfte die deutsche Gesellschaft ihren Enthusiasmus gegenüber dem Nationalsozialismus eher aus einem neuen Vertrauen auf die Stärke ihres Vaterlands als aus der antisemitischen Besessenheit ihrer Nazi-Führer, die lauthals hinausschrien, dass nur ein von seinen »nicht arischen« Elementen gereinigtes Deutschland aus seiner Asche neu auferstehen könne – und zwar dank eines Volkes, dem seine rassische Harmonie eine in der Geschichte der Menschheit nie da gewesene Kraft verleihen werde. Dieser Wahn war zudem pure Mythologie, da sich die Deutschen, wie alle anderen auch, bereits unendlich viele Male mit anderen Völkern vermischt hatten, und dies schon Jahrtausende vor der Ankunft Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ auf Erden, die im Übrigen keinem einzigen morphologischen Kriterium eines vermeintlichen Ariers entsprachen.
Viele Bürger hatten anderes zu tun, als Juden zu jagen, nur weil sie Juden waren. Da sich aber rasch Gelegenheiten boten, aus dieser Verfolgung persönlichen Nutzen schlagen zu können, steigerte sich die Begeisterung für die rassische Sache – und zwar quer durch sämtliche Schichten der Gesellschaft. So fanden sich selbst in den gebildeten Milieus kaum Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Anwälte oder Juristen, die sich dem Ausschluss jüdischer Kollegen widersetzt hätten, brachten deren nun frei gewordene Posten doch all jenen einen unverhofften Vorteil, denen es aufgrund mangelnder Kompetenz nicht gelungen war, eine solche Stelle zu besetzen.
Der Fall des Philosophen Martin Heidegger, Mitglied der NSDAP bis zum Ende des Krieges und von 1933 bis 1934 Rektor der Universität in Freiburg, spiegelt das vorherrschende damalige Klima in den Universitätszirkeln wider, deren Professoren mehrheitlich die Einführung einer Quotenregelung wünschten, um die »Überrepräsentation« von Juden an den Hochschulen und allgemein bei intellektuellen Posten zu beenden. Bereits 1916 schrieb Heidegger in einem Brief an seine spätere Ehefrau Elfriede, die eine notorische Antisemitin war: »Die Verjudung unserer Kultur und Universitäten ist allerdings schreckerregend.« 1929 schrieb er Victor Schwoerer, dem Vizepräsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft: »[…] es geht um nichts Geringeres als um die unaufschiebbare Besinnung darauf, dass wir vor der Wahl stehen, unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen oder es der wachsenden Verjudung im weiteren u. engeren Sinne endgültig auszuliefern.« Andere Akademiker neideten ihren jüdischen Kollegen schlicht und einfach den Erfolg.
Sich seiner Konkurrenten billig entledigen zu können war auch der Hauptgrund eines plötzlich aufkommenden Antisemitismus in der Wirtschaftswelt. Von den Kunden seiner in Schwierigkeiten geratenen Mitbürger profitieren zu können war derart verführerisch, dass Händler in Mannheim nicht zögerten, in ihren Schaufenstern zu verkünden: »Kaufen Sie hier in einem deutschen Geschäft.« Die in Not geratenen jüdischen Kaufleute begannen, ihre Medaillen aus dem Ersten Weltkrieg hervorzuholen und sich an ihre Westen zu heften, andere wiederum versuchten, sich über Wasser zu halten, indem sie Preisnachlässe und Ratenzahlungen für Billigwaren anboten. »Ganz ohne entsprechende Gesetze hatte sich in den Wochen unmittelbar nach der Machtergreifung damit in schier atemberaubender Geschwindigkeit ein Bewusstseinswandel bei vielen Deutschen vollzogen: jüdisch oder arisch – das machte auf einmal auch im Geschäftsleben einen Unterschied«, analysiert Christiane Fritsche.
Es geschah vielleicht auch vor diesem Hintergrund, dass Karl Schwarz die Wappenzeichnung anfertigen und in seinem Büro