Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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      DIE VERGANGENHEIT, die meine Großeltern für immer unter den Ruinen des Dritten Reiches verschüttet glaubten, tauchte eines Morgens im Januar 1948 im Briefkasten wieder auf, als Karl Schwarz einen Umschlag vorfand, dessen Absender auf Anhieb das Unheil ankündigte: Dr. Rebstein-Metzger, Rechtsanwältin – Mannheim. In dem Brief teilte die Anwältin kurz gefasst mit, dass ihr Klient, ein gewisser Julius Löbmann, der in Chicago lebte, von der Schwarz & Co. Mineralölgesellschaft rund 11.000 Reichsmark kraft eines Gesetzes einfordere, das in der amerikanischen Zone eingesetzt worden sei und Wiedergutmachungen für die unter dem Nationalsozialismus ihres Eigentums beraubten Juden vorsehe.

      Von der Geschichte dieses Briefes und dessen, was er auslöste, haben weder mein Vater noch meine Tante – die es liebt, Familiengeschichten zu erzählen – jemals gesprochen. Ich wusste, dass Opa Mitglied der NSDAP war und seine Firma einst Juden gehört hatte – mein Vater muss es mir wohl im Vertrauen gesagt haben, als ich in der Schule die Geschichte des Dritten Reiches studierte, aber ich war damals noch zu jung, um mich für die Hintergründe zu interessieren. Es geschah sehr viel später aufgrund einer Bemerkung meiner Tante Ingrid, dass ich mich entschloss, die Ordner von Opa zu durchstöbern, die seit dem Tod meiner Großeltern im Keller des Mannheimer Wohnhauses aufbewahrt wurden. Unter den Papieren, die im Laufe der Zeit zwar vergilbt, deren aufgedruckte Buchstaben aber noch immer gut lesbar waren, fand ich einen Vertrag, der bezeugte, dass Karl Schwarz zwei jüdischen Brüdern, Julius und Siegmund Löbmann, sowie deren jüdischem Schwager, Wilhelm Wertheimer, dessen Schwestern Mathilde und Irma sie geheiratet hatten, eine kleine Gesellschaft für Mineralölprodukte abgekauft hatte. Die Firma Siegmund Löbmann & Co. lag in der Gegend des Industriehafens von Mannheim nahe am Neckar gelegen, in der Helmholtzstraße 7a. Es ist aber vor allem das Datum, das von Interesse ist: August 1938, für die deutschen Juden das Jahr des endgültigen Absturzes in die Hölle, denn nun nahm der Druck durch Verfolgung und Diskriminierung in geradezu schwindelerregender Weise zu und zwang sie, ihr Eigentum zu Niedrigstpreisen aufzugeben.

      Von der Familie Löbmann konnte ich nur recht wenige Spuren finden, bis ich im Internet auf eine Familie Loebmann stieß, die tatsächlich in Chicago lebte, wo Julius wohnte, als er von meinem Großvater Wiedergutmachungsleistungen einforderte. Die darauffolgende Entdeckung einer langen Liste an Loebmanns im Onlinetelefonbuch aber setzte meinen Hoffnungen ein jähes Ende. Ebenso gut konnte man eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen. Ich begann also meine Nachforschungen auf die Linie der Wertheimer zu konzentrieren, den Namen der Familie des dritten Eigentümers der Siegmund Löbmann & Co., Wilhelm, dessen zwei Schwestern Julius und Siegmund geheiratet hatten. Dabei stieß ich auf einen Artikel, der eine Lotte Kramer, geborene Wertheimer, erwähnte, Tochter von Sophie, der dritten Wertheimer-Schwester. Lotte war eine der letzten noch lebenden Zeuginnen der Kindertransporte, einer Rettungsaktion, mit der mehr als 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei zwischen 1938 und 1940 nach England gelangten. Ich fand ihre Spur in einem Seniorenheim in Peterborough, einer kleinen, gut eine Stunde nördlich von London gelegenen Stadt. Sie stimmte umgehend einem Treffen mit mir zu.

      Lotte Kramer ist 95 Jahre alt. Eine kleine, zierliche Frau mit feinen Gesten und so höflich, wie es nur Engländerinnen sein können. Sie hatte zwei Sessel einander gegenüber gestellt, nah genug, damit wir uns gut verstehen konnten, und erzählte mir von ihrem Leben und was sie über das der Löbmanns wusste.

      »Meine Mutter Sophie und ihre beiden Schwestern liebten sich sehr«, sagt sie und nimmt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand, auf der drei junge Frauen zu sehen sind. Die Jüngste von ihnen, Mathilde, mit einem dicken Knoten im Haar und einer gestreiften Bluse, hat ein hübsches, zielgerichtetes und offenes Gesicht; ihr zur Seite Irma, die Älteste der drei, trägt einen Kragen mit Häkelsaum, der ihre müden und vielleicht ein wenig traurigen Züge aufheitert; die Letzte, Sophie, sitzend, eine Medaille um den Hals tragend, zeigt einen unsicheren Blick, der mit vager Hoffnung erfüllt ist. Lotte wurde 1923 in Mainz geboren, wo sie auch aufwuchs. Regelmäßig legte sie die knapp 100 Kilometer zurück, die sie von Mannheim trennten, um ihre heiß geliebte Cousine Lore zu besuchen, die Tochter von Siegmund und Irma Löbmann. Sie erinnert sich an ihre ausgedehnten Spaziergänge in den Gärten am Fuße des Wasserturms, an das Flanieren auf den belebten Straßen und den nie fehlenden Kaffee und Kuchen ihrer Tante Irma, einer »hervorragenden Köchin«. »Es kam sogar vor, dass wir alle gemeinsam zum Urlaub im Kraichgau aufbrachen, ins Geburtsdorf der Löbmanns, wo auf einem Bauernhof damals ein Teil ihrer Familie lebte. Wir waren sehr verbunden miteinander.«

      Die Wertheimer-Schwestern hatten drei Brüder: Siegfried, der in den Zwanzigerjahren fortgezogen war, um sich in den USA niederzulassen, Paul, der in der Zeit des Nationalsozialismus nach Frankreich ins Exil ging, und Wilhelm, der zu Beginn der Dreißigerjahre in die Firma Siegmund Löbmann & Co. investierte, um seinen beiden Schwägern zu helfen, das von der Wirtschaftskrise 1929 schwer getroffene Haus zu retten. Dank dieser Unterstützung erholte sich die Firma wieder, bevor sie dann unter der Bürde der zunehmenden Diskriminierung jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus wieder abrutschte.

      Lotte war neun Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Im Januar 1933 hatte der deutsche Präsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg angesichts der Wahlerfolge der NSDAP, die im Juli 1932 mit 37 Prozent und im November desselben Jahres mit 33 Prozent der Stimmen zur ersten politischen Partei des Landes geworden war, klein beigegeben: Er hatte den Chef der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, zum Kanzler ernannt. Der zögerte nicht lange, löste den Reichstag auf, rief Neuwahlen aus und inszenierte mit dem Ziel, die absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen, eine aggressive Kampagne, die geprägt war von Propaganda, Parteiverboten, Repressalien und Drohungen gegen andere Kandidaten. Trotzdem verfehlte Hitler sein Ziel, da seine Partei im März nicht mehr als 43,9 Prozent der Stimmen erhielt.

      In Mannheim, einer Stadt, in der traditionell die SPD und die KPD besonders stark vertreten waren, kam die NSDAP Ende der Zwanzigerjahre auf keine 100 Mitglieder. Aber nachdem sich mit der Wirtschaftskrise von 1929 die Zahl der Arbeitslosen verdreifacht hatte, wurde mit den Parlamentswahlen vom Juli 1932 die NSDAP mit 29,3 Prozent der Stimmen zur stärksten politischen Kraft der Stadt. Kurz nach ihrer Machtergreifung 1933 zerschlugen die lokalen Nazi-Autoritäten sowohl die SPD als auch die KPD, verboten Zeitschriften und zwangen den Bürgermeister von Mannheim, beim Verbrennen der Fahne der Republik zuzuschauen, bevor sie ihn in ein Krankenhaus sperrten. Unmittelbar darauf wurden mehr als 50 jüdische Beamte entlassen, noch bevor das Regime am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erließ, um schon bald darauf alle »nicht arischen« oder politisch missliebigen Beamten ihres Dienstes zu entheben, Universitätsangestellte und Wissenschaftler inbegriffen.

      Mit rasanter Geschwindigkeit verbreitete sich in Mannheim, wo mit gut 6.400 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Badens lebte, ein Antisemitismus neuer Ordnung. In der gesamten Region waren die Veränderungen zu spüren. »Plötzlich gab es überall antisemitische Propaganda, auf der Straße, in den Zeitungen, im Radio«, erinnert sich Lotte. »Eines Tages haben wir mit der Schulklasse einen Propagandafilm für Kinder gesehen, der die Geschichte eines zum Nazismus konvertierten Jungen zeigte, was uns unglaublich beeindruckte, wir wollten alle sein wie er.« Auf ihrem Heimweg von der Schule ging sie tagtäglich an der Hitlerjugend vorbei. »Ich war eifersüchtig, ich träumte davon, eine von ihnen zu sein, sie wirkten in ihren Uniformen so unglaublich glücklich.« Es war vor allem die Normalität, die sie beneidete, sie, das kleine jüdische Mädchen, das schon als Kind die Ausgrenzung, Erniedrigung und Scham zu ertragen hatte, die ihrer Gemeinschaft aufgebürdet worden waren.

      In einem hervorragenden Buch mit dem Titel Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt – Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim erklärt die Historikerin Christiane Fritsche, wie in vielen Bereichen auf lokaler Ebene zahlreiche antisemitische Maßnahmen ergriffen wurden, ohne dass ein nationales Gesetz sie gerechtfertigt hätte. Die Handelskammer von Mannheim gab den Ton an, indem sie sich Ende März ihrer jüdischen Mitglieder entledigte, sprich: ihres eigenen Präsidenten und eines Drittels ihres Personals. Parallel dazu, und aus eigener Initiative, schlossen zahlreiche Institutionen und Verbände von Kaufleuten, Rechtsanwälten, Medizinern mit irritierender Geschwindigkeit Juden aus ihren Reihen aus. Damit wurden ihnen nicht nur die wesentlichen professionellen Netzwerke genommen, sondern auch ihr Ruf geschädigt,