Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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Kabarett« trägt. Am unteren Seitenrand sind Auszüge positiver Pressestimmen wiedergegeben. Aus Saarbrücken: »Selten wird Kunst in dieser pikanten Form serviert. Mit klassischem und volkstümlichem Gesang paart sich ein schalkhafter Humor, durchweht von sprühendem Geist. Das Ganze als Eulenspiegelparodie war, man kann es nicht anders bezeichnen, eine Glanzleistung.« Aus Mannheim: »Die Eulenspiegel gewannen schnell Sympathie, denn sie zeigten Originalität, Geist und – welch seltene Wohltat – Niveau.« Auf halber Höhe des auf den 2. Februar 1948 datierten Briefes steht geschrieben: »Wir bestätigen hiermit, dass Herr Karl Schwarz zu unserer Gruppe gehört«, und unten auf der Seite bezeugt dies die Unterschrift des Leiters des Kabaretts, Theo Lustfeld2. Welches Motiv sich auch immer hinter diesem Dokument verbergen mag, das zweifellos als Alibi gedient haben musste, um meinen Großvater nach dem Krieg von möglichen Unregelmäßigkeiten reinzuwaschen, so verweist es doch darauf, dass Karl das Etablissement häufiger aufgesucht haben muss, um ein solch heimliches Einverständnis erlangt haben zu können. Tatsächlich hatte er vor allem mit einer Dame verkehrt, einer Künstlerin, die zugleich die Ehefrau des Chefs war, Frau Lustfeld, und sich dem Paar so sehr angenähert, dass er nach der Zerstörung seiner Firma im September 1943 sein Büro und seine Lagerhalle gleich neben ihrer Wohnung in einer an den Randgebieten von Mannheim gelegenen Ziegelei einrichtete, wo er dann auch bis zum Ende des Krieges wohnte. Und da es kaum vorstellbar ist, dass der Ehemann von der intimen Nähe, die seine Frau an ihren neuen gemeinsamen Freund band, keinen Wind bekommen hatte, hält mein Vater es für durchaus wahrscheinlich, dass sie eine Art Ménage-à-trois führten, die bis zum Tode meines Großvaters halten sollte. Als Oma begriff, dass die Lustfelds, die sich während ihrer Abwesenheit so rührend um ihren Ehemann gekümmert hatten, mehr als nur Freunde waren, stürzte sie dies in einen Schmerz, von dem sie sich nie mehr wirklich erholen sollte. Glücklicherweise hat sie diese unangenehme Entdeckung erst sehr viel später gemacht und nicht schon nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 bei ihrer Rückkehr mit den Kindern nach Mannheim. Ein anderer Schock erwartete sie dort bereits: Die Stadt, in der sie das Licht der Welt erblickt hatte, war zur Hälfte verschwunden.

      Mannheim war im Südwesten Deutschlands eine der am meisten zerstörten Städte; 70 Prozent des Zentrums und 50 Prozent der restlichen Stadt lagen in Trümmern. Es hatte den desaströsen Luftangriff vom September 1943 gegeben und zahlreiche weitere, und schließlich flogen die Bomber der Royal Air Force am 2. März 1945 noch ein letztes Mal los, obwohl das Ende des Krieges bereits absehbar war, und entzündeten einen Feuersturm, der den Rest der historischen Altstadt mit sich davontrug. Ende März hatten die Mannheimer bei der Ankunft der Amerikaner die Waffen gestreckt und waren auf diese Weise, ohne es zu wissen, dem Schlimmsten überhaupt entkommen, denn ein amerikanischer Geheimplan sah vor, über mehreren Städten nukleare Sprengbomben niedergehen zu lassen, sollten die Deutschen Widerstand leisten – Mannheim und Ludwigshafen zählten zu den möglichen Zielen.

      Falls Oma mit dem Zug angekommen sein sollte, so hat sie neben dem Bahnhof das große Barockschloss, von dessen 500 Zimmern ein einziges unberührt geblieben war, an allen Ecken und Enden durchlöchert gesehen. Um zur Chamissostraße zu gelangen, hat sie die alten großen Einkaufsstraßen überqueren müssen, die einst von prächtig erleuchteten Kaufhäusern gesäumt gewesen waren, vor Leben nur so wimmelnd und jeglichen Überfluss zur Schau stellend – Magnete, in die man aus der ganzen Region herbeigeströmt war, um Einkäufe zu erledigen. Karstadt und die ehemaligen jüdischen, nun aber arisierten Kaufhäuser Kander, Gebrüder Rothschild, Hermann Schmoller & Co waren zum Großteil wie Kartenhäuser unter den Bomben zusammengesackt. Von den Cafés, die im Sommer stets ihre schönen Terrassen geöffnet hatten, um den Damen Sahnetorten und Kaffee zu servieren, war keine einzige Spur mehr verblieben, abgesehen vielleicht von einigen aus ihren Firmenschildern herausgerissenen Buchstaben oder auch den Scherben des Geschirrs, das den Namen des Caféhauses trug und nun als Splitter aus den Trümmerbergen herausragte, die sich an den Gehsteigkanten auftürmten, um den Weg freizugeben. Ganze Straßenzüge waren verschwunden, verwandelt in großflächige, schemenhafte Terrains, auf denen hier und da die Karkassen von Gebäuden und die körperlosen Fassaden fortbestanden, aufgestellt wie Theaterkulissen im Nichts. Ich stelle mir Oma vor, wie sie, eine äußerst gläubige Protestantin, die altvertraute Silhouette einer Kirche mit ihren Blicken sucht und an deren Stelle nichts als das nackte Skelett eines Kirchenschiffs vorfindet und ein vor der klaffenden Öffnung eines Glockenturms schief hängendes Kreuz.

      Wie viele Deutsche haben wohl, meinen Großeltern gleich, ihre Geburtsstadt derart entstellt gesehen, die Identität eines Lebens? Hamburg war in ein Feuermeer verwandelt worden, das bis zu 40.000 Menschen das Leben kostete und die Hälfte aller Wohnungen zerstörte, Dresden, Meisterwerk des Barocks, war nach einem Bombensturm, der circa 25.000 Einwohner tötete, zu einer Geisterstadt geworden. Hannover, Kassel, Nürnberg, Magdeburg, Mainz, Frankfurt waren zu 70 Prozent verschwunden, während das gesamte Ensemble im Industriebecken an Rhein und Ruhr – Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund – unter den Bomben zusammengebrochen war. Einige Gemeinden wie Düren, Wesel oder Paderborn waren sogar zu mehr als 96 Prozent verschwunden. Summa summarum verlor jede fünfte Familie ihr Zuhause. Die Zahlen schwanken, aber vermutlich starben während der Luftangriffe etwa 300.000 bis 400.000 Menschen, so der Historiker Dietmar Süß. Mindestens ebenso viele erlitten lebenslange Folgeschäden und Millionen weitere waren traumatisiert.

      Am 14. Februar 1942 hatte London über eine Anweisung dem Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, Arthur Harris, mitgeteilt, dass er seine Streitkräfte ohne jede Beschränkung einzusetzen habe, die Operationen sollten » on the morale of the enemy civil population and in particular the industrial workers « fokusiert werden, sprich auf Wohngebiete. Arthur Harris erhielt den Spitznamen Bomber Harris. Bevor ich dieses Buch zu schreiben begann, war mir dieser Held der Briten nicht bekannt, und ich muss, als ich in London studierte, wohl zigmal an seiner 1992 enthüllten Statue vorübergegangen sein, ohne ihr jemals meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Seit die Erinnerungsarbeit jedoch für mich zur Obsession geworden ist, jage ich ihr in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen nach, wo immer ich mich aufhalte. Für gewöhnlich widme ich mich ihr ganz allein, denn den Tag mit Toten zu verbringen trifft nicht gerade aller Welt Geschmack. So nutzte ich auch einen Blitzbesuch in London, um mir die Statue anzusehen, auf der Arthur Harris vor der St. Clement Danes Church thront. Dieses Mal las ich das Epitaph: »Im Gedenken an einen exzellenten Befehlshaber und die mutigen Besatzungen der Bombergeschwader, von denen über 55.000 ihr Leben für die Freiheit ließen. Die Nation schuldet jedem von ihnen unermesslichen Dank.«

      Die Bombardierung der Zivilbevölkerung hatte zum Ziel, die Moral der Deutschen und ihre Unterstützung für Hitlers Krieg zu brechen, Historiker sind sich heute aber einig, dass sie nicht dazu beigetragen hat, den Krieg zu verkürzen. Diese Angriffe, ursprünglich als Vergeltung für die zerstörerischen Luftangriffe der Deutschen auf Coventry, auf London und auch auf Rotterdam gedacht, wandelten sich im weiteren Verlauf zu mordsüchtiger Rache. In den letzten Monaten des Krieges bombardierten die Briten und Amerikaner Deutschland beinahe täglich, obwohl die Niederlage des Reiches längst klar war.

      Abgesehen von der Masse der zivilen Todesopfer führten diese Verheerungen dazu, dass Deutschland ganze Teile seiner kulturellen und historischen Identität verlor. Sieht man sich Bilder von Mannheim, Berlin oder Köln vor dem Krieg an, so wird einem ein vollkommen anderes Land präsentiert. Doch auch wenn die Alliierten Verbrechen begangen haben, die primäre Verantwortung für diese Gewaltspirale fällt zweifellos dem Dritten Reich zu, denn hätte es den Krieg in Europa nicht vom Zaun gebrochen, Deutschland hätte niemals auf diese Weise gelitten und wäre nicht in solchem Maße verunstaltet worden. Das allergrößte Leid aber brachten nicht die Bomben über die Deutschen, sondern der mörderische Wahn des Führers, der auf den Schlachtfeldern mehr als fünf Millionen deutschen Soldaten das Leben kostete.

      Meine Großeltern waren von diesem Blutbad nicht direkt betroffen. Doch unzählige jener, die ihnen nahestanden, hatten den Tod eines der Ihren in diesem Krieg zu beweinen, den Hitler weiterzuführen sich in den Kopf gesetzt hatte, obwohl mehrere Generäle ihm geraten hatten, sich doch zurückzuziehen. Der Mann von Karls Schwester Heidi, ein Offizier der Wehrmacht und glühender Nationalsozialist, war an der Ostfront gestorben, so wie mindestens 3,5 Millionen andere deutsche Soldaten auch, die die Weigerung ihres Führers, angesichts der evidenten Überlegenheit der Sowjets in den letzten Kriegsjahren einen Rückzieher zu