Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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bereits in vollem Gange war und schon 70.000 Menschen durch Vergasung mit Kohlenmonoxid in speziellen Zentren in Deutschland und Österreich ihr Leben gelassen hatten, gab Hitler angesichts dieser Empörung in der Bevölkerung klein bei und stoppte sein Vorhaben. Der Führer hatte begriffen, welches Risiko er einging, sollte er sich zu offenkundig als grausam erweisen. Es ist dies womöglich auch einer der Gründe, warum das Dritte Reich eine so unfassbar große Energie für den unendlich komplexen und mit hohen Kosten verbundenen Transport der europäischen Juden an den Tag legte, um sie in Polen, weit ab vom Blick ihrer Mitbürger, in isolierten Lagern zu vernichten.

      Kurz nach Kriegsende aber stellte sich in Deutschland kaum jemand die Frage, was passiert wäre, wäre die Mehrheit nicht mit dem Strom geschwommen, sondern gegen eine Politik angegangen, die ihre Absicht, die menschliche Würde mit Füßen zu treten, als ob man Küchenschaben zermalmt, bereits sehr früh offenbart hatte. Mit dem Strom geschwommen zu sein wie mein Großvater war derart verbreitet gewesen, dass die Banalität dieses Übels zum mildernden Umstand gereichte – und zwar selbst in den Augen der alliierten Streitkräfte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Deutschland zu entnazifizieren.

      Nach ihrem Sieg hatten die Amerikaner, Franzosen, Briten und Sowjets das Land und seine Hauptstadt Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt, in denen sie sich jeweils darum bemühten, in Zusammenarbeit mit deutschen Schiedskammern die nationalsozialistischen Elemente der Gesellschaft aufzuspüren und zu bestrafen. Sie hatten die Verwicklung in die Verbrechen des Nationalsozialismus in vier Stufen eingeteilt, deren ersten drei theoretisch die Eröffnung eines Strafverfahrens rechtfertigten: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete und Mitläufer. Entsprechend der offiziellen Definition wurde mit Letzterem bezeichnet, »wer nicht mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat«, insbesondere, »wer als Mitglied der NSDAP […] lediglich Mitgliedsbeiträge bezahlte [und] an Versammlungen, deren Besuch Zwang war, teilnahm […]«. Tatsächlich überstieg in Deutschland mit seinen in den Grenzen von 1937 69 Millionen Einwohnern die Masse der Mitläufer die Zahl der acht Millionen Parteimitglieder der NSDAP. Millionen weitere waren angegliederten Organisationen beigetreten und viele mehr hatten den Nationalsozialismus begrüßt, ohne jedoch Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen zu sein. Meine Großmutter zum Beispiel, die kein Parteibuch besaß, fühlte sich Adolf Hitler stärker verbunden als mein Großvater, der eines besaß. Den Alliierten aber blieb nicht die Zeit, sich mit diesen Feinheiten auseinanderzusetzen. Sie hatten bereits genug zu tun mit den Minderbelasteten, den Belasteten und den Hauptschuldigen, mit der Unzahl an Beamten des höheren Dienstes, die ihre kriminellen Befehle in diesem bürokratischen Labyrinth, welches das Dritte Reich war, erteilt hatten, und all jenen, die diese dann nicht selten mit infamer Beflissenheit ausführten.

      Einfache Mitglieder der nationalsozialistischen Partei wie mein Großvater kamen mehr oder weniger unbeschadet davon. Seine einzige Strafe bestand darin, dass er sich der Kontrolle über sein kleines Unternehmen, der Mineralölgesellschaft Schwarz & Co., enthoben sah, die für die Dauer einiger Jahre einem von den alliierten Autoritäten ernannten Verwalter anvertraut worden war. Es hätte ihm vermutlich auch einige Schwierigkeiten bereitet, einen Beamtenposten anzunehmen, wenn er dies denn gewollt hätte. Seine Tochter, meine Tante Ingrid, meint sich zu entsinnen, er wäre dazu verurteilt worden, »Steine zu klopfen«, doch merkwürdigerweise hat mein Vater keinerlei Erinnerung daran und hegt wenig Zweifel, dass im höchst unwahrscheinlichen Fall einer solchen Bestrafung mein Großvater, »schlau, wie er war«, es irgendwie erreicht hätte, einer solchen Fron zu entkommen. Ihm ist eher im Gedächtnis haften geblieben, dass sein Vater niemals bessere Geschäfte gemacht habe als in ebenjener Zeit des Arbeitsverbots, da er sich auf dem Feld der Schattenwirtschaft im Vergleich mit dem legalen Markt als weitaus gewiefterer Geschäftsmann erwies. Er entsinnt sich, dass bei der Familie Schwarz stets Wein aufgetischt wurde, Fleisch, Eier und Äpfel, Dinge, von denen viele im zerstörten Nachkriegsdeutschland sogar den Geschmack vergessen hatten. Dieses Auseinanderklaffen der Erinnerungen der beiden Kinder von Karl Schwarz ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die eine ihrem Vater ebenso sehr verbunden wie der andere ihm fern war.

      Naturgemäß konnte man die acht Millionen Mitglieder der NSDAP nicht alle ins Gefängnis werfen, schon deshalb nicht, da in den Vollzugsanstalten nicht ausreichend Platz war. Seit dem Frühling 1945 hatten die Alliierten massenweise ehemalige Parteifunktionäre und Mitglieder der SS festgenommen, sodass etwa 300.000 Personen in Gefangenschaft saßen. Von allen Alliierten bemühten sich die Amerikaner mit größter Strenge, ihre Zone zu entnazifizieren, zumindest anfangs.

      Mannheim, wo meine Großeltern lebten, befand sich just in der amerikanischen Zone, die den Norden Baden-Württembergs, Bayern und Hessen umfasste, wozu dann noch der Südwesten Berlins hinzukam sowie im Norden das Bremer Land, das aufgrund seiner Lage an der Nordsee strategisch wertvoll war. Die Amerikaner genossen einen guten Ruf und meiner Tante Ingrid bleibt bis heute ein Bild vor Augen, wie sie »stets lächelnd und vor Gesundheit strotzend in ihren Jeeps saßen, was ein wenig Frohsinn« in das unheilvolle Ambiente Nachkriegsdeutschlands mischte. Dennoch zeigte sich der Militärgouverneur über die US-Besatzungszone, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, Dwight D. Eisenhower, wenig optimistisch und mutmaßte, dass es mindestens 50 Jahre intensiver Umerziehung bedurfte, um den Deutschen demokratische Grundprinzipien beizubringen. Diese Aufgabe übernahmen die neuen Medien, die für die Vorteile der Demokratie warben. Aber den allergrößten Ehrgeiz entwickelten die Amerikaner dabei, die Vergangenheit aller Deutschen, die älter als 18 Jahre waren, zu überprüfen. Dazu gaben sie Fragebögen mit etwa 130 Fragen aus, die einen Hinweis auf den Grad der Verstrickung mit dem NS-Regime und den ihrer ideologischen Indoktrination liefern sollten.

      Mit extremer bürokratischer Konsequenz begannen sie, Millionen von Formularen zu verlesen, die sich in ihren Büros stapelten, hatten sie doch das Ziel vor Augen, die Schuldigen zu bestrafen und die Gesellschaft von den am stärksten von den Nazis indoktrinierten Personen zu reinigen. Jeder Beamte, der vor dem 1. Mai 1937 der NSDAP beigetreten war – und dies waren Hunderttausende –, wurde entlassen. Ende des Winters 1945/46 hatten in der amerikanischen Zone über 40 Prozent der Beamten ihre Anstellung verloren.

      Ich habe keine Kopie des Entnazifizierungsfragebogens meines Großvaters finden können, doch er muss ihn ausgefüllt haben, da ein Brief der Besatzungsmächte darauf verweist, dass sie schon sehr bald um seine Mitgliedschaft in der Partei wussten.

      Als er 1970 starb, suchte mein Vater in sämtlichen Papieren von Karl Schwarz nach den Spuren seines Mitgliedsausweises und etwaigen Parteiabzeichen, jedoch erfolglos. In Erwartung des Einmarsches der Alliierten in Mannheim im März 1945 hatte er wohl wie die meisten seiner Landsleute diese kompromittierenden Beweise ins Feuer des Küchenofens geworfen und mit ihnen gleich auch die Flagge der Nazis, die er – wie es der Brauch war an Festtagen – auf seinem Balkon gehisst hatte, und, wer weiß, vielleicht ja auch ein Porträt des Führers, das er in seinem Arbeitszimmer um des lieben Friedens willen aufgehängt oder das meine Großmutter in ihrer Verbundenheit in einer Schublade aufbewahrt hatte. Doch dies alles war vergebliche Mühe, da die örtlichen Anführer der NSDAP Reißaus genommen hatten, ohne sich die geringsten Sorgen darüber zu machen, auch das Register der Parteimitglieder in Mannheim zu zerstören, das die Amerikaner bei ihrer Ankunft unversehrt vorfanden.

      Doch nicht alles hatte Karl verschwinden lassen. Unter seinen persönlichen Habseligkeiten entdeckte mein Vater eine äußerst merkwürdige Wappenzeichnung: ein schwarz-goldener Ritterhelm vor einem Hintergrund aus Pflanzen, zwischen denen ein Fabelwesen auftaucht, eine Art Kreuzung zwischen Ziege und Hirsch mit roten Hörnern und Hufen, dessen Nacken von einem Pfeil nämlicher Farbe durchbohrt ist. Darunter steht in einer ausschweifenden Kalligrafie der Name Schwarz geschrieben, die Jahreszahl 1612 und folgender Text: »Diese in Schwaben u. Franken in mehreren Linien blühende bürgerliche Familie leitet ihre Herkunft v. Rothenburg her.« Die Ahnenforschung erlebte in Zeiten des Nationalsozialismus einen gewaltigen Aufschwung und hatte den Status einer Quasi-Wissenschaft im Dienste des Regimes angenommen, das seinen schwammigen Rassentheorien eine Glaubwürdigkeit andichten musste, die ihm keine ernst zu nehmende Theorie hätte liefern können. Diese Zeichnung besaß einen rein dekorativen Wert, da für den Eintritt in die NSDAP ein ganz anderes Papier vonnöten war: ein besonders umfassender und detaillierter Arier-Nachweis, für den man eine Unmenge an Belegen beibringen musste, mit denen die arische