auf die Intentionen der Alliierten: Während man sich gern damit brüstete, die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine stellen zu wollen, zogen die Besatzer, allen voran die Amerikaner, aus ihrer Machtposition Nutzen, um technologisches Know-how zu stehlen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die spektakulären Leistungen deutscher Wissenschaftler von der Welt neidvoll wahrgenommen worden. Zwischen 1900 und 1945 waren 38 Nobelpreise an Deutsche verliehen worden. Im gleichen Zeitraum hatte Frankreich 16 erhalten, Großbritannien 23 und die Vereinigten Staaten 18. Die Niederlage des Reiches war für diese Länder die Gelegenheit, sich fehlendes technisches Wissen anzueignen, was gerade im Kontext des Kalten Krieges noch an Brisanz gewann.
So wurden im Rahmen der amerikanischen Operation Paperclip massenhaft Wissenschaftler aus Deutschland herausgeschleust. Dies geschah heimlich, um zu verhindern, dass diejenigen, die mit dem Nazi-Regime kollaboriert hatten – wie etwa Wernher von Braun, der Vater der V2, Mitglied der NSDAP und der SS –, in die Hände der internationalen Gerichtsbarkeit fielen. Es ist zum Teil dem Vorsprung dieser Experten auf dem Gebiet der chemischen Waffen, der Raumfahrt, der ballistischen Raketen und der Düsenflugzeuge geschuldet, dass die Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges ihre technologische Überlegenheit ausspielen konnten. Auch auf anderen, zivilen Gebieten wurden zahlreiche Innovationen gestohlen, von Elektronenmikroskopen über Kosmetikartikel und Textilmaschinen bis zu Tonbandgeräten, Insektiziden und sogar Schlittschuhschleifer- sowie Papierservietten-Maschinen. Das Vereinigte Königreich tat sich gleichfalls keinen Zwang an, sich an Patenten und Technologien zu bereichern. Der amerikanische Historiker John Gimbel schätzt, dass die Briten und in noch größerem Umfang die Amerikaner auf diese Weise Deutschland ein intellektuelles Vermögen im damaligen Wert von zehn Milliarden US-Dollar entwendet hätten, was heute in etwa 100 Milliarden US-Dollar entspricht.
Die Franzosen waren in dieser Hinsicht weitaus weniger engagiert. Im Gegensatz zu den anderen Alliierten glaubten die Behörden nicht, dass es möglich war, deutsche Technologien aus ihren jeweiligen Kontexten herauszulösen und im eigenen Land zu integrieren. Aber das Militär und die Luftfahrtindustrie haben den Wert dieser kostbaren Kenntnisse und Erfahrungen erkannt und ließen mehrere Hundert Wissenschaftler nach Frankreich kommen, insbesondere jene, die an der Vz-Rakete gearbeitet hatten. Jetzt wurden sie bei der Konstruktion der Düsentriebwerke von Jagdflugzeugen, des ersten Airbus, der ersten französischen Raketen und des ersten Helikopters der späteren Firma Eurocopter, heute Airbus Helicopters, eingesetzt. Auch war ihr Beitrag bei der Entwicklung von U-Booten, Torpedos, Radarsystemen, Granaten und Panzermotoren erheblich und erlaubte Frankreich ein paar beachtliche Durchbrüche zu erzielen. Die Sowjets setzten Tausende deutscher Experten mitsamt ihren Familien in Züge, um sie auch gegen ihren Willen nach Russland zu verschleppen – unter ihnen etwa der Assistent von Wernher von Braun, Helmut Gröttrup. Diese waren anfangs daran beteiligt, das Raketenprogramm Stalins auf den Weg zu bringen und damit zumindest indirekt auch am Start der Sputnik in der UdSSR im Oktober 1957, dem ersten künstlichen Erdsatelliten.
Diese und ähnliche Interessenkonflikte beschädigten den Ruf der Alliierten, aber sie sollten nicht vergessen lassen, dass sie das Verdienst haben, Kriegsverbrecher und NS-Funktionäre bestraft und der Bevölkerung ein erstes Verständnis der Schändlichkeit des Dritten Reiches bewusst gemacht zu haben. So sagt die 1936 geborene Schwester meines Vaters, sie habe seit ihrer Jugend gewusst, dass »die Nazis Verbrechen begannen haben«, dass »dies in der Schule und selbst in den Medien erwähnt« worden sei, in welchen sie Fotos der Konzentrationslager gesehen habe. Ich war erstaunt darüber, da mein Vater, der 1943 zur Welt gekommen ist, mir gegenüber immer nur von einem vollständigen Gedächtnisschwund nach dem Krieg gesprochen hat. Dann wurde mir klar, dass Ingrid zu einer Zeit die Schule besucht hatte, als die Amerikaner in Mannheim versuchten, die Deutschen »umzuerziehen«, wohingegen zu jener Zeit, da mein Vater zur Schule ging, die Episode der Entnazifizierung bereits beendet war.
1948 wurden die drei westlichen Zonen fusioniert, um einen neuen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, zu gründen. Die Alliierten kamen darin überein, auch Westdeutschland vom Marshallplan profitieren zu lassen, ein Kreditprogramm, mit dem der Wiederaufbau zahlreicher westeuropäischer Staaten finanziert werden sollte. Mein Vater sagt noch heute, dass »Deutschland Glück gehabt hat, mit dieser Nachsicht behandelt worden zu sein, bedenkt man die Verbrechen, die es begangen hatte«. Es hat alles in allem vom Kalten Krieg profitiert.
Ende der Vierzigerjahre zogen sich die Alliierten von der ungeheuren Herausforderung der Entnazifizierung zurück, für die es ihnen letztlich an Wissen über die Komplexität des Nazi-Regimes mangelte. Ohnehin konnte niemand von außen diese Aufgabe anstelle der Deutschen bewältigen. Es lag an ihnen selbst, ihre Geisteshaltung zu ändern und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Es gab gute Gründe, diesbezüglich pessimistisch zu sein.
2Deutschland im »Jahre Null«
NACH DEM KRIEG ging es in der Familie meines Vaters nie um Politik, Diskussionen am Tisch waren eher selten: Die Kinder durften nur sprechen, wenn man ihnen ausdrücklich das Wort erteilte, und taten sie es doch, mussten sie damit rechnen, die Hucke vollzubekommen, da Karl eine autoritäre Vorstellung von Vaterschaft besaß.
In der apokalyptischen Atmosphäre Nachkriegsdeutschlands hatte nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Priorität, es ging vielmehr darum, so schnell wie möglich ein neues Leben aufzubauen und zu organisieren. Die Familie Schwarz lebte in einer Dreizimmerwohnung in der ersten Etage eines kleinen Mietshauses, das 1902 vom Vater meiner Großmutter errichtet worden war, einem Tischler, der es 1935 seiner Tochter hinterlassen hatte, da sie die einzige Überlebende seiner neun Kinder war. Die Chamissostraße war hart von den alliierten Bombenangriffen getroffen worden, doch wie durch ein Wunder hatte das dort gelegene Wohnhaus das Schlimmste überstanden, während die Gebäude der gegenüberliegenden Straßenseite zu einer Ruinenwüste zertrümmert worden waren. Diese urbane Entstellung empfanden einige dennoch als Glück: »Das war für uns Kinder ein Terrain unglaublicher Abenteuer, wir konnten laufen, springen, klettern, uns verstecken und haufenweise Schätze entdecken«, erinnert sich mein Vater.
Während des gesamten Krieges waren Mannheim und seine Nachbarstadt Ludwigshafen, beide am Zusammenfluss von Rhein und Neckar gelegen, häufiger als jede andere Stadt dieser Gegend Ziel der Angriffe – insgesamt 304 –, was ihrer Infrastruktur als Hafenstädte, ihren industriellen Zentren für Maschinenbau und Elektronik sowie ihrer chemischen und pharmazeutischen Produktion geschuldet war. In Wirklichkeit aber hatten die Briten, gemessen an der Anzahl ihrer Luftangriffe, insbesondere die Wohngebiete ins Visier genommen, die am dichtesten besiedelt waren. Mannheim schien ihnen bestens geeignet gewesen zu sein, um eine Bombardierungstechnik zu testen, die man Carpet bombing oder Flächenbombardement nannte und deren Zweck, wie es der Name besagt, darin bestand, eine urbane Fläche so weit zu schleifen, bis sie einem Teppich glich. Die Stadt schien für dieses Experiment aufgrund der Einteilung ihres Zentrums in Karrees wie geschaffen, da diese eine genaue Auswertung der Explosionsfolgen mithilfe von Luftaufnahmen ermöglichte. Zum Glück meiner Großeltern lag ihr Mietshaus vom Stadtzentrum leicht abgelegen. Einige der Bomben hatten jedoch eine so große Sprengwirkung, dass ihre Detonationen Wohngebiete im Umkreis von mehreren Kilometern beschädigen konnten – Schäden, die mein Großvater nach und nach peinlich genau den deutschen Obrigkeiten vorlegte, um entsprechende Wiedergutmachung zu erhalten.
Mein Vater und ich sind die Akten durchgegangen, die Opa sein ganzes Leben lang sorgsam im Keller aufbewahrt hatte, als hätte er noch Jahre nach Kriegsende befürchtet, es käme einer, der seine erlittenen Verluste leugnen und von ihm verlangen würde, die Abgeltungen zurückzuzahlen. Nach jedem Angriff kamen die Behörden, um die Schäden für eine Wiedergutmachung festzustellen, die häufig erst viel später ausbezahlt wurde: »Durch Luftdruckeinwirkung infolge Bombeneinschlags bei dem Fliegerangriff vom 5./6.8.41 wurde auf oben bezeichnetem Grundstück Gebäudeschaden verursacht. Es entstand Dach- u. Glasschaden. Wände und Decken sind gerissen. Der Schaden wurde dem Grunde nach durch das Augenscheinprotokoll des städt. Hochbauamtes vom 4.11.1941 der Höhe nach durch die vorgelegten, von Architekt Anke geprüften und bestätigten Handwerkerrechnungen mit zusammen RM 4841,83 nachgewiesen. Außerdem wurden