tun. Empathie findet sich selten in Kraft gesetzt, wenn alle Welt leidet. So hatten meine Großeltern zwar Mieter, aber diese konnten nur wenig Miete zahlen. Die Schäden der Angriffe vom September 1943, die sowohl das Gebäude als auch Opas Fabrik getroffen hatten, waren noch immer nicht ausgeglichen worden. Mein Großvater verbrachte ganze Tage damit, bei den Behörden vorstellig zu werden. Glücklicherweise hatte er vor dem großen Bombardement ein vollständiges Inventar seiner Güter erstellt, das ich im Keller in Mannheim gefunden habe.
Bei der Lektüre dieser Liste, die jedes einzelne Kleidungsstück, das gesamte Mobiliar, jedes einzelne Zubehör, das meine Großeltern besaßen, aufzählt, fand ich mich in jener Kulisse wieder, in der Oma gelebt hatte, als ich noch ganz klein war, und von der ich gedacht hatte, mich nur noch vage an sie erinnern zu können: Nach ihrem Tod – ich war sechs Jahre alt – hatte mein Vater die Wohnung vollkommen umgestaltet. Nicht ohne einen Kloß im Hals zu spüren, sah ich vor mir deutlich das Zimmer meiner Großmutter wiedererstehen, in dem sich schwere dunkle Holzmöbel befanden, ein Bild, das eine idyllische germanische Landschaft darstellte, ein für die Größe des Zimmers viel zu massives Bett und über diesem ein beeindruckendes Kruzifix, vor dem Lydia jeden Abend gebetet hatte. Die Wohnung bestand aus einem Salon, einer großen Küche, in der Oma ganze Tage damit verbrachte, Gebäck auf Blechen so groß wie ihr Ofen für die sonntäglichen Runden zu Kaffee und Kuchen zu backen, sowie einem Herrenzimmer, in welchem man in Sesseln, die einer Art-déco-Bibliothek und einem dazu passenden Schreibtisch gegenüberstanden, sitzend Pfeife und Zigarre rauchen durfte, wenn die Finanzen es erlaubten, allerdings nur unter Männern. Eine andere Liste, die ich fand, ist auf den Tag nach den Verwüstungen durch die Bombardements im September 1943 datiert und verzeichnet die Verluste. Wie detailliert Opa den Schaden notierte – er gibt dabei auch »einen Kanarienvogel samt Käfig« an, »eine Türklinke«, »leere Flaschen« und »leere Obstkisten« –, liefert einen Eindruck von der angespannten finanziellen Situation meiner Großeltern während dieser Zeit.
Sehr schnell war es Karl Schwarz gelungen, eine weitaus effizientere Lösung zu finden, als auf die Schadensersatzleistungen des Staates zu warten, um die Lebensbedingungen seiner Familie zu verbessern. Zwar hatten die Alliierten ihn der Kontrolle seiner Gesellschaft enthoben, aber sie wussten nicht, dass er in einer Ziegelei außerhalb der Stadt noch über ein ganzes Lager an Öl- und Petroleumfässern verfügte. In jenen Zeiten des Mangels glichen diese Reserven purem Gold auf dem Schwarzmarkt, von wo mein Großvater die unglaublichsten Schätze mit nach Hause schleppte: Lagen an Eierkartons, die er im Gartenhäuschen im Hof unterbrachte, Hunderte von Äpfeln, die im kühlen Keller frisch gehalten wurden, ganze Schinken, die im Badezimmer von der Decke hingen, und sogar – unerhörter Luxus in diesen entbehrungsreichen Zeiten – Knallkörper und Sekt zu Silvester. Karl war der Einzige im Viertel, der ein Auto besaß und davon profitierte, »dass immer ausreichend Platz zum Parken vorhanden war«, wie mein Vater belustigt erzählt. In der Nachbarschaft galt die Familie Schwarz als außergewöhnlich gut situiert, wohingegen andere Jungen in der Schule mit leerem Magen und in Schuhen mit löchrigen Sohlen erschienen. »Man war ein wenig neidisch auf uns«, sagt meine Tante, die ihrem Vater stets dankbar gewesen ist, »sich für seine Familie so durchgebissen zu haben«.
Jeder schlug sich in diesem am Boden liegenden Deutschland so gut durch, wie er es vermochte. Eine der größten Attraktionen meines Vaters als Kind bestand darin, zum Fenster zu eilen, sobald er das Hupen der schweren Jeeps hörte, die vor dem Hauseingang hielten, wenn amerikanische Soldaten kamen, um ihre Begleitung für den Abend abzuholen. »Es gab die beiden Töchter der Dame über uns sowie eine Nachbarin, die zwar verheiratet war, aber nicht wusste, ob ihr Mann zurückkehren würde, und man musste ja doch weiterleben«, erinnert er sich. Zahlreiche deutsche Kriegsgefangene kehrten erst viele, manche sogar erst zehn Jahre nach Kriegsende heim, während sie ihre Ehefrauen allein auf sich gestellt und voller Ungewissheit zurücklassen mussten. Etwa 1,3 Millionen von ihnen kehrten niemals aus der Sowjetunion zurück und wurden unter verabscheuungswürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen, nachdem das Reich seinerseits 3,3 von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen ermordet oder sterben lassen hatte.
Materiell war für eine deutsche Frau in dieser Zeit ein für tot erklärter Ehemann besser als ein vermisst gemeldeter. Im ersten Fall konnte sie sofort eine Rente erhalten, im zweiten musste sie oft über mehrere Jahre kümmerlich ihr Leben ohne Pension oder Witwenrente fristen und dabei häufig doch nur auf die Bestätigung warten, dass der Ehemann tatsächlich tot war. »Die jungen Frauen aus Mannheim begannen mit den Amerikanern auszugehen, die sie in ihre Kasernen mitnahmen, wo sie tanzen, ins Kino gehen, sich satt essen und sich mit den jungen Männern amüsieren konnten, die in ihren Uniformen ziemlich attraktiv wirkten«, erzählt mein Vater.
Manchmal bildeten diese Zusammenkünfte den Anfang einer schönen Liebesgeschichte, wie etwa bei einem der beiden Mädchen aus dem oberen Stockwerk, das einen Amerikaner geheiratet hatte und dessen Tochter Cynthia dann die Kindheitsfreundin meines Vaters wurde, bevor ihre Eltern 1949 in die Vereinigten Staaten umsiedelten. Für andere wiederum, wie etwa für die mit einem Mann in Gefangenschaft verheiratete Nachbarin, glichen diese Treffen eher einer Art Prostitution. Alle im Gebäude wussten Bescheid, aber schlecht angesehen war sie deshalb nicht, denn die Zigaretten der Amerikaner konnten manchmal einer ganzen Familie helfen zu überleben. »Offiziell hatten die Amerikaner ihren Soldaten verboten, mit deutschen Mädchen zu verkehren, aber das funktionierte nur wenige Monate. Und wenn mein Vater sie in seinem Hause akzeptierte, dann geschah dies wahrscheinlich im Austausch gegen einige Geschäfte und Zigaretten.« Mit dem Wertverfall der Reichsmark waren Zigaretten zur Referenzwährung auf dem Schwarzmarkt gediehen und es gab keinen Weg an ihnen vorbei, da die Lebensmittelmarken 1946 je nach Versorgungslage für einen Erwachsenen täglich zwischen 800 und 1.500 Kalorien vorsahen. Viele hungerten, einige starben, selbst vor Kälte, da auch die Kohle rationiert und der Winter 1946/47 extrem hart war. In Opas Fotoalbum gibt es ein Bild des zugefrorenen Rheins, auf dem Mannheimer flanieren, als befänden sie sich auf der Newa in Sankt Petersburg.
Weitere neue Besucher des Wohnhauses waren die sogenannten »Onkel«. Da die Rente an Kriegswitwen nur unter der Bedingung ausgezahlt wurde, dass sie alleinstehend blieben, hatten sie keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten. Und da das Gesetz es nicht verheirateten Paaren verbot zusammenzuleben, machte sich die Gewohnheit breit, seinen neuen Partner als einen Onkel vorzustellen. Der Vermieter war angehalten, auf die Einhaltung dieses Gesetzes von seinen Mietern zu achten, andernfalls hatte er eine Strafe zu zahlen. Karl Schwarz aber drückte ein Auge zu, brillierte er doch selbst in der Illegalität. Er war ein großzügiger Mensch und teilte seine Beute vom Schwarzmarkt gern mit seiner Familie und Freunden an einem sonntäglichen Tisch. »Die Gespräche handelten von den Renten, die nicht zu erhalten man befürchtete, wenn man im Dritten Reich Beamter oder Soldat gewesen war. Die Inflation, die unauffindbaren Produkte und der Klatsch der Nachbarschaft … das waren die Hauptfragen der Zeit – und nicht etwa, wer was unterm Nationalsozialismus gemacht hatte«, erklärt mein Vater.
Manchmal beklagte man jene, deren Schicksal noch schlimmer war, wie etwa die Berliner, deren Zukunft ebenso unfassbar erschien wie der Anblick der Ruinen, in denen herumirrende Flüchtlinge spukten, die nach Ratten jagten, um was zu essen zu haben, oder Frauen, die sich als Prostituierte den Soldaten vor den Augen von Kindern hingaben, die vorbeiziehenden Kleinlastern auflauerten, um etwaige herunterfallende Kohlestücke aufzusammeln. Der Film Deutschland im Jahre Null von Roberto Rossellini, der 1947 in Berlin gedreht wurde, ist eines der atemberaubendsten Zeugnisse dieser vom Gefühl des Nichts angefassten Zeit. Inmitten der Ruinen der Hauptstadt erzählt der italienische Regisseur die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen, Edmund, der seiner Familie im Elend hilft, indem er mehrere kleine Jobs an Land zieht. Um seinen kranken Vater zu retten, ruft er seinen ehemaligen Schullehrer zu Hilfe, der ihm, beherrscht von der Nazi-Ideologie, rät, sich vom kranken Glied der Familie zu befreien, welches das Überleben der Gruppe gefährde. Nachdem er seinen Vater vergiftet hat, springt Edmund von einer Ruine in den Tod.
1Pseudonym
2Pseudonym