Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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wen der Markt begünstigte.

      Die Aussicht, ein gutes Geschäft machen zu können, hat möglicherweise die Entscheidung von Karl Schwarz beeinflusst, die Ölfirma Nitag zu verlassen, bei der er immerhin die sichere Stelle eines Generalbevollmächtigten innehatte, ein ordentliches Gehalt verdiente und ausreichend Respekt genoss, um 1935 innerhalb der Firma zum Delegierten der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront befördert zu werden. Es war übrigens auch das Jahr, in dem er in die NSDAP eintrat, vielleicht weil die Parteimitgliedschaft eine Bedingung seiner Beförderung war. Unwahrscheinlich ist, dass er sich aus Begeisterung der Partei anschloss. Denn Opa war ein Hedonist, ein Lebemann, für den die sadomasochistischen Kraftmeiereien der Macht, mit denen sich die Nationalsozialisten hervortaten, wenig Anziehung besaßen. Deren blinder Gehorsam entsprach mitnichten seinem unabhängigen Geist, der seinen Freiraum beanspruchte. Er liebte es, allein in den Bergen, die Freiburg überragen, Ski zu fahren und an den Seen zu campen, wo er seiner Leidenschaft für die Freikörperkultur frönen konnte, einer Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland gegründet worden war. Bei Nitag dürften die Unterordnung unter seinen Chef, der die Regeln vorgab, die Routine des Angestellten und die Erwartung einer Beförderung als einzige jährliche Aufregung auf ihm gelastet haben. Er wird wohl von Unabhängigkeit geträumt und sich vorgestellt haben, dass er sich bei seiner Pfiffigkeit und seinem Kommunikationsgeschick auf eigene Beine stellen kann – und dies nur umso mehr, als er in seiner Jugend gelernt hatte, in einem Labor Petroleum und Paraffin herzustellen. Er hat das Zeugnis dieser Ausbildung aufbewahrt, auf dem präzisiert wird: »Wir waren während dieser Zeit mit der Führung, Fleiß und Betragen des Herrn Schwarz stets zufrieden.«

      Vielleicht hätte mein Großvater es trotzdem nicht gewagt, allein in See zu stechen, wenn sein Kollege Max Schmidt ihm nicht eines Tages seine eigene Verachtung gegenüber diesem folgsamen Leben gestanden hätte. Ich stelle mir vor, wie die beiden ihren Abgang gleich einer Flucht aus der Gefangenschaft vorbereiteten, nach getaner Arbeit bei einem Glas Bier zum Feierabend. Und tatsächlich hatte das Vorhaben etwas von einem Komplott, da Karl und Max sich nicht nur vornahmen, zu zweit ein Konkurrenzunternehmen zu gründen, wenn auch ein sehr viel kleineres, sondern auch noch sieben ihrer Kollegen abzuwerben und deren Kundschaft gleich mit. Die Gelegenheiten, welche die zu Schleuderpreisen angebotenen jüdischen Firmen boten, dürften diese konspirative Atmosphäre nur noch verdichtet haben, denn mein Großvater war kein glühender Antisemit, er muss sich der Schande bewusst gewesen sein, die es bedeutete, aus der Not der Juden Profit zu schlagen.

      Die beiden Komplizen suchten wahrscheinlich das Register der Firmen auf, die noch zu arisieren waren, etwa ein Drittel der insgesamt 1.600 jüdischen Unternehmen, die es in Mannheim gegeben hatte. Die anderen waren entweder bereits verkauft oder aber nach ihrem Bankrott liquidiert worden.

      Wie mag der Seelenzustand, mit dem Karl und Max die Löbmanns trafen, zu beschreiben sein? Verlegenheit? Schuldgefühl? Oder war es die Arroganz derer, die sich in der Position des Mächtigeren wissen? Ich weiß es nicht, aber ich verfüge über einen Hinweis: Karl und Max haben 10.353 Reichsmark für die Firma bezahlt, also »nur« circa 1.100 Reichsmark weniger als der ursprünglich festgelegte Preis. Im Wissen, dass dieser den Erwartungen der NS-Obrigkeiten angepasst sein musste, um deren Einwilligung zum Handel zu erhalten, war es vielleicht ein Anflug von Mitgefühl, der es den beiden verbat, das Ganze noch weiter zu treiben. Sicher ist, dass es weitaus schlimmere Profiteure als meinen Großvater bei diesen Gaunereien gab, unerbittliche Aasgeier, welche die einerseits wachsenden Schwierigkeiten für jüdische Unternehmer, einen Käufer zu finden, und andererseits ihre bedrückende Not, genug Geld für den Wegzug und die Gründung einer neuen Existenz im Ausland zusammenzubringen, aufs Erbärmlichste ausreizten. Durch Großzügigkeit zeichnete sich Karl Schwarz jedoch auch nicht gerade aus, da er widerspruchslos die von den Nazis festgelegte Regelung zur Preisfindung anwendete: Nur der materielle Wert einer jüdischen Firma sollte berücksichtigt werden, für ihren immateriellen Wert aber sollte es keinen Pfennig geben. Damit wurde genau das ausgespart, was sie häufig am wertvollsten machte: die vielen Jahre, in denen man sich einen guten Ruf aufgebaut und also einen festen Kundenstamm gewonnen hatte, um eine Dienstleistung, ein Produkt, eine Marke zu verbessern, eine Formel zu entwickeln oder Patente zu sichern.

      Nach dem Verkauf begleitete Julius Löbmann über mehrere Monate meinen Großvater für 400 Reichsmark auf dessen Geschäftsreisen, um ihn der Kundschaft der Firma vorzustellen – womit eben genau jener Wert realisiert wurde, den Karl Schwarz und Max Schmidt nicht bezahlt hatten. Ich denke, dass das Einvernehmen zwischen Karl und Julius verhältnismäßig »gut« gewesen sein muss, sonst wäre es wohl kaum zu diesen gemeinsamen Reisen gekommen, und dies erst recht, als es von nun an Juden verboten war, sich auf Geschäftsreise zu begeben. Unterkünfte und Restaurants, die sie über Jahre hinweg als Kunden empfangen hatten, verkündeten nun in ihren Schaufenstern: »Juden unerwünscht.« Ihre Lage verschlechterte sich zusehends. Berufsverbote häuften sich. Sie erhielten von Amts wegen einen zweiten Vornamen in ihre Personalpapiere gedruckt, damit man sie besser unterscheiden konnte: Sara für Frauen, Israel für Männer. Und schließlich wurde in ihre Pässe ein großes J gedruckt.

      Während dieser Reisen muss Opa wegen Julius eine ganze Reihe von Leuten angelogen haben, Straßenpolizisten etwa, Hotelbesitzer oder auch Restaurantbetreiber … Dieses Risiko gemeinsam getragen zu haben, dürfte sie einander nähergebracht haben. Das aber sollte mit den Novemberpogromen 1938 ein Ende finden.

      Am 9. November 1938 waren Julius und Opa zusammen im Schwarzwald auf Geschäftsreise, in einer idyllischen Kulisse aus Hügeln und Tannenwäldern. Als sie im Laufe des 10. November nach Mannheim zurückkehrten, hatte der antisemitische Hass eine weitere Gewaltschwelle überschritten. Ein brutaler Pogrom war quer durch das Reich von Mitgliedern der NSDAP, der SA und der Hitlerjugend angefacht worden, wobei Hitler »ausdrücklich seine Zustimmung zu den antijüdischen Aktionen gegeben« hatte, schreibt der Historiker Dietmar Süß in seinem Buch Ein Volk, ein Reich, ein Führer: Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich. Nach seinen Schätzungen »muss man wohl – als direkte oder indirekte Folge der Pogrome – von etwa 1.300 bis 1.500 Todesopfern und 1.406 zerstörten Synagogen ausgehen, 30.756 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesteckt«.

      Lotte Kramer hat es nicht vergessen: »Wir erhielten den Anruf eines Onkels, der gegenüber der Synagoge wohnte, wo sich auch unsere Schule befand, er sagte zu unserer Mutter: ›Schick deine Kinder nicht zur Schule, das Gebäude brennt!‹ Mein Vater bekam rechtzeitig den Rat, er solle verschwinden, woraufhin er sich in den Wäldern versteckte. Mit unserer Mutter sind wir hoch auf den Dachboden gestiegen, von wo aus wir durch das kleine Fenster hindurch die Leute auf der Straße sahen, wie sie Geschäfte verwüsteten; zum Glück kamen sie nicht zu uns. Mein Vater kehrte bei Einbruch der Nacht zurück und in dieser Nacht schlief ich im Bett meiner Eltern. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich Angst.«

      In Mannheim begannen die Gewalttätigkeiten am 10. November bei Sonnenaufgang. Drei Synagogen wurden zerstört, eine von ihnen sogar mit Sprengsätzen pulverisiert, Männer wurden festgenommen, um sie später ins Konzentrationslager Dachau zu verschleppen. Profitgier war einer der Hauptbeweggründe für diesen Ausbruch an krimineller Energie: Der Großteil der jüdischen Läden wurde ebenso geplündert wie zahlreiche Wohnungen. Die Banditen des Nationalsozialismus machten in ihren Autos Plünderfahrten, drangen bei Armen ebenso ein wie bei Reichen, raubten, was sie konnten, und zerstörten den Rest. Viele Mannheimer Bürger waren von dieser Barbarei schockiert, die ihren verharmlosenden Namen »Reichskristallnacht« den Scherben von Millionen zersplitterten Scheiben schuldet. Opa wird ähnlich empfunden haben, als er, gerade zurückgekehrt von einer Reise, von seinem Lieferwagen aus dieses traurige Schauspiel betrachtete: brennende Bücher, Möbel, die aus den Fenstern auf den Bürgersteig flogen, zerstörte Fenster und Vitrinen. Julius an seiner Seite packte die Unruhe, als er erfuhr, dass Teile seiner Familie festgenommen worden waren. An diesem Tage beendeten sie ihre illegale Zusammenarbeit, sie war zu gefährlich geworden.

      Die Verwandten von Julius konnten befreit werden und von nun war höchste Eile geboten, die Abreise in die USA zu organisieren. Die Familie hatte Kontakte nach Chicago und New York, wo Siegfried lebte, der Bruder von Irma und Mathilde Wertheimer, der in den Briefen an seine Schwestern Lobeshymnen auf Amerika sang. Die Löbmanns schickten tatsächlich erste Möbelstücke nach Chicago, was sie sich dank des Geldes