ein, wenn nicht zwei Drittländer durchqueren, Frankreich, Portugal, Belgien, die Niederlande, die Schweiz, wo gewissenlose Mittelsmänner Bestechungsgelder verlangten, die umso höher wurden, je stärker die Not der Juden anwuchs. Reisebüros, Konsulate, Schlepper, Hotelbesitzer, bestochene Beamte – wie viele haben sich nicht am Antisemitismus bereichert! Die Mittel der Löbmanns aber waren begrenzt, da die Summe, die sie aus dem Verkauf ihrer Firma gezogen hatten, nach den für Juden geltenden Verordnungen auf einem vom Reich kontrollierten Konto, von dem sie jeweils nur kleinere Summen abheben durften, blockiert war.
Trotzdem war es noch nicht vollkommen unmöglich, Deutschland zu verlassen. Nach den Novemberpogromen 1938 konnten bis zu 40.000 Juden flüchten. Unter ihnen befand sich Lotte Kramer. Ihre Lehrerin an der Schule in Mainz hatte von den organisierten Kindertransporten nach Großbritannien gehört und einen Platz für sie gefunden. »Meine Mutter sprach mit ihrer Schwester Irma darüber, der es gelang, auch ihre beiden Kinder Lore und Hans im Transport unterzubringen. Ich wollte von meinen Eltern nicht getrennt sein, aber ich war mit meinen Cousins zusammen, und es war ein wenig wie ein Abenteuer.«
1939 konnten noch fast 80.000 Juden das Land verlassen, davon mindestens 1.000 Juden aus Mannheim. Einige von ihnen landeten in Indien oder Kenia, Länder, die nicht ihre erste Wahl gewesen waren.
Die Familie Löbmann hat vielleicht zu lange gezögert, sich von Amerika als Bestimmungsort abzuwenden und sich stattdessen mit dem Lebensminimum irgendwohin zu retten. Diese Abneigung gegen alles Improvisierte wurde zu ihrer Fessel. Je länger die Löbmanns abwarteten, desto mehr ging ihr Vermögen zur Neige und damit die Chance, doch noch auswandern zu können. Denn nach dem 9. November 1938 gab es kein Halten mehr bei den organisierten Plünderungen. Um die Juden für jene Pogrome zu bestrafen, deren unglückselige Opfer sie selbst ja waren, forderte das NS-Regime von ihnen eine Sühneleistung in Form einer neuen Steuer, der Judenvermögensabgabe, mit der die Nationalsozialisten 25 Prozent des Vermögens derer ergaunerten, die wie die Löbmanns mehr als 5.000 Reichsmark besaßen. Dann befahl man ihnen im Februar 1939, sämtliche Gegenstände aus Silber, Gold und Platin auszuhändigen, ebenso wie Perlen und Edelsteine, und zwar für einen Preis, der häufig nur ein Zehntel des eigentlichen Wertes ausmachte. Wenige Monate später zwang eine neue Verordnung diejenigen, die das Land verließen, zusätzlich zur Steuer auf Devisen und zur Reichsfluchtsteuer eine progressive Auswandererabgabe zu bezahlen.
Die Lage der in Deutschland festsitzenden Juden verschlimmerte sich zusehends. Hitler hatte entschieden, sie endgültig aus dem Wirtschaftsleben und der Arbeitswelt auszuschließen. Diejenigen, die bereits alles verloren hatten, wurden zwangsweise herangezogen, um Straßen zu bauen oder den Müll zu entfernen, während Firmen, die noch nicht arisiert worden waren, zu Schleuderpreisen verkauft wurden. Einige Juristen trieben den Zynismus so weit, dass sie die Eigentümer, die in Dachau eingesperrt waren, aufsuchten, um sie den Verkaufsvertrag unterzeichnen zu lassen. Man riss sich Grundstücke unter den Nagel, auch die der Synagogen, der jüdischen Organisationen, der jüdischen Friedhöfe. In Mannheim, wie Christiane Fritsche berichtet, hat selbst die evangelische Kirche an dieser finsteren Zerlegung teilgenommen – und damit die Preise aufs Erbärmlichste gedrückt.
Am Morgen des 22. Oktober 1940 tauchten Nazi-Schergen in den Häusern der Löbmanns sowie bei Wilhelm Wertheimer, dem Bruder von Irma und Mathilde, auf und befahlen ihnen, ihre Koffer zu packen: Jeder Erwachsene hatte das Recht auf maximal 50 Kilogramm Gepäck sowie 100 Reichsmark und sollte Nahrung und Wasser für drei Tage mitnehmen. Ihre Konten, ihre Wertpapiere sowie ihr Grund und Boden wurden mit allem, was sie beinhalteten, gepfändet. Wenige Stunden später warteten sie auf dem Gleis des Mannheimer Bahnhofs gemeinsam mit ungefähr 2.000 anderen Juden der Stadt darauf, in einen Zug zu steigen, dessen Ziel sie nicht kannten. Ungefähr die Hälfte der Mannheimer Gemeinde war in den Jahren davor ins Exil geflohen. Acht Juden hatten sich noch am Morgen der Razzia das Leben genommen. Mehreren Hundert war es gelungen, sich zu verstecken, nur Ehepartner arischer Personen wurden verschont.
Am 23. Oktober setzte sich ein aus neun Zügen bestehender Konvoi mit etwa 6.500 Gefangenen in Bewegung. 4.500 weitere Juden aus dem Südwesten Deutschlands, dem Saarland, aus Baden und der Pfalz waren ebenfalls im Rahmen dieser Aktion verhaftet worden. Nachdem der Transport bei Kehl den Rhein überquert hatte, kam er nachts in Chalon-sur-Saône an, einem Ort, der direkt an der Demarkationslinie lag, die Frankreich nach der Niederlage in eine vom Dritten Reich besetzte Zone im Norden des Landes und eine sogenannte »freie« Zone im Süden unterteilte, die von der begrenzt autonomen französischen Regierung mit Sitz in Vichy kontrolliert wurde. Anders als die Deutschen es sich ausgemalt hatten, legte Vichy, das inzwischen ein eigenes »Judenstatut« zu deren Diskriminierung eingeführt hatte, Protest ein. Vor vollendete Tatsachen gestellt, ließen die französischen Behörden jedoch die Züge in die »freie« Zone einfahren, in der die Deutschen theoretisch kein Sagen hatten, wobei sie deutlich darauf hinwiesen, dass es außer Frage stand, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen durfte.
Nach zwei Tagen, während derer sie der Brutalität der SS ausgeliefert waren, kamen die Passagiere, von denen viele hohen Alters waren, im Lager Gurs im Südwesten Frankreichs an. In diesem von Vichy verwalteten Internierungslager befanden sich Juden und Nicht-Juden aller Nationalitäten – mit Ausnahme der französischen, die entweder von den Nazis deportiert wurden oder aber vom französischen Regime in der »freien« Zone verhaftet worden waren. In Gurs gab es weder Hinrichtungen noch Folter, aber Hunderte der Häftlinge starben aufgrund der Lebensbedingungen, sie verhungerten oder kamen vor Kälte um in diesen fensterlosen Baracken, in denen es weder sanitäre Anlagen noch fließendes Wasser gab, in die der Regen eindrang und wo das Bettzeug aus mit Stroh gefüllten Säcken bestand, die auf den schlammigen Boden geworfen waren. Irma Wertheimer, die Ehefrau von Siegmund Löbmann, erkrankte schwer und wurde Ende November 1941 in ein Hospital in Aix-en-Provence transportiert. Siegmund wurde in das nahe gelegene Internierungslager Les Milles überführt, um in ihrer Nähe sein zu können.
Aus Gurs zu fliehen war verhältnismäßig einfach, da dessen Umzäunung nur zwei Meter hoch und weder elektrisiert noch mit Wachtürmen verstärkt war. Dennoch gab es wenige Fluchtversuche, da die größere Herausforderung erst noch folgte: ein langes, angsterfülltes Versteckspiel mit der Polizei. Vermutlich weil ein solcher Ausbruch mit Kindern und älteren Eltern unvorstellbar war, zogen viele Gefangene die Familie der Freiheit vor.
In Gurs hatten religiöse und humanitäre Verbände die Erlaubnis erhalten, Nahrung zu liefern, medizinische Versorgung anzubieten und den Alltag der Inhaftierten zu erleichtern. Eine von ihnen, die internationale jüdische Hilfsorganisation HICEM, half den Juden dabei, die nötigen Unterlagen für die Einreichung einer Emigrationsanfrage zusammenzustellen. Jene, denen dies gelang, baten den Vorsteher des Lagers, nach Marseille, diesem großen französischen Hafen am Mittelmeer, überführt zu werden, hegten sie doch die Hoffnung, sich von dort aus nach Übersee einschiffen zu können. So gelangten im April 1941 schließlich auch Julius und Mathilde Löbmann mit ihrem Sohn Fritz sowie Wilhelm Wertheimer und seine Frau Hedwig mit ihrem Sohn Otto nach Marseille. Dank der Unterstützung der Mitarbeiter aus der Gedenkstätte des Lagers Les Milles, einer der Vorzeigeinstitutionen in Frankreich, um die jungen Generationen für dieses Gedenken zu sensibilisieren, konnte ich den weiteren Weg der Mitglieder dieser Familie nachzeichnen.
Die Männer kamen nach Les Milles, das unter der Verwaltung von Vichy stand und wo zahlreiche Künstler und Intellektuelle wie etwa Golo Mann und Lion Feuchtwanger interniert waren. Die Frauen und Kinder wurden in zu Unterbringungszentren umfunktionierten Hotels in der Innenstadt von Marseille geschickt.
Hedwig und Otto, der damals neun Jahre alt war, wurden ins Hôtel Bompard gebracht, Mathilde und Fritz, damals zwölf Jahre alt, ins Hôtel Terminus les Ports. Man litt an Unterernährung, an Hygienemangel, an Ungeziefer, an mangelnder Kleidung und Kälte in diesen Häusern, in denen die Stromversorgung und das Wasser rationiert waren und deren Besitzer oft nicht die geringsten Skrupel hatten, die vom französischen Staat ausgezahlten Aufwandsentschädigungen in die eigene Tasche zu stecken und nur einen Bruchteil den Gästen zugutekommen zu lassen. Außerdem war man dem Gutdünken widerwärtiger Figuren wie dem Arzt Félix Roche-Imbart ausgesetzt, der seiner sadistischen Lust frönte, die Unterbringung erkrankter Gäste in Hospitälern und Sanatorien zu verhindern und ihnen den Besuch von Ehegatten zu verbieten. Trotz allem waren im Vergleich zum Lager in Gurs die Lebensbedingungen