Géraldine Schwarz

Die Gedächtnislosen


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ein, vor allem aber konnten die meisten Frauen sich frei in der Stadt bewegen, am Strand spazieren gehen und weiterhin versuchen, die notwendigen Behördenwege zu erledigen, um auswandern zu können.

      Laut Archiv des Lagers Les Milles muss Hedwig versucht haben, für ihre Familie amerikanische Visa zu erhalten. Was wahrscheinlich auch für Mathilde gilt. Sie kamen zu spät. Kurz zuvor war ein solches Ziel noch umsetzbar, dank des amerikanischen Vizekonsuls in Marseille, Hiram Bingham IV, der Visa und gefälschte Papiere beschaffte. Oder aufgrund der Hilfe des amerikanischen Journalisten Varian Fry, dem es gemeinsam mit einem großen Netzwerk an Unterstützern gelungen war, mehr als 2.000 Juden aus Frankreich herauszuschleusen, unter denen sich hauptsächlich Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler wie Claude Lévi-Strauss, Max Ernst, Hannah Arendt oder Marc Chagall befanden. Als Reaktion, aber auch auf Druck des Vichy Regimes hin, entzog das Aussenministerium in Washington dem Konsulat die Entscheidungshoheit in Sachen Visavergabe, versetzte Hiram Bingham IV nach Portugal und konfiszierte den Pass von Varian Fry.

      Hedwig Wertheimers und Mathilde Löbmanns Bestrebungen zur Emigration scheiterten im Sommer 1942, sie wurden mit ihren Söhnen nach Les Milles überführt, wo sie wieder auf ihre Ehemänner Julius und Wilhelm trafen. Die Stimmung war bedrückend. Im Lager Drancy nördlich von Paris hatten die Deportationen nach Auschwitz begonnen. Offiziell hieß es, um die Häftlinge in Arbeitslager zu bringen. Beim Anblick der Viehwaggons, in die man ganze Familien ohne Wasser einpferchte, fragten sich viele, warum man wohl auch Kinder, die gar nicht befähigt waren zu arbeiten, in die Züge zwängte. Es war auch schon von Massakern die Rede.

      Hedwig und Mathilde mussten die Gefahr gerochen haben. Wie andere Mütter auch, entschieden sie sich, ihre Söhne dem jüdischen Kinderhilfswerk anzuvertrauen. Zeugen haben von herzzerreißenden Trennungen berichtet, dem Weinen der Kinder, die man von ihren Müttern trennte, die wiederum damit zu kämpfen hatten, Haltung zu wahren, um ihre Kleinen nicht zu beunruhigen. Otto wurde ins Château de Montintin südlich von Limoges gebracht, wo sich mehrere Hundert Kinder zwischen 12 und 17 Jahren versteckt hielten, unter ihnen vor allem deutsche Juden, die dort von einem Arzt beschützt wurden. Fritz ging in eine ähnliche Anstalt, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Kinder vor der Deportation zu retten.

      Im Frühling 1943 hatten die beiden Cousins das Glück, noch einmal in einem der letzten Zufluchtsorte Frankreichs vereint zu sein, der in der damals von Italien besetzten Zone im Südosten Frankreichs lag. In Izieu, einem kleinen, hoch gelegenen Dorf an den Hängen eines Arms der Rhône, hatte die polnisch-jüdische Widerstandskämpferin Sabine Zlatin gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Heim errichtet, wo sie die Kinder vor der Deportation bewahren wollte. Zum ersten Mal seit Langem konnten Fritz und Otto wieder an die Leichtigkeit der Kindheit anknüpfen. In der Gedenkstätte von Izieu zeigen Fotos diese Kinder auf einer weiten Wiese, ihr Haar im Wind, als Gruppe vor einem Haus, die Großen tragen die Kleineren auf ihren Armen, in Badehose auf einem Steg an einem See. Sie lächeln fast immer und es ist auf diesen Bildern, die Aufnahmen welcher glücklichen Kindheit auch immer sein könnten, nicht der Hauch eines Vorzeichens zu sehen.

      Die italienische Besatzungszone war für Juden die sicherste, da sich die Italiener, im Gegensatz zu den Franzosen, so gut es ging weigerten, sie auszuliefern. Im September 1943 aber, nach der Kapitulation des faschistischen Italiens, kippte die Situation, da nun die Deutschen die italienische Zone in Frankreich besetzten. Die aufkommende Gefahr ahnend, machte sich Sabine Zlatin Anfang April 1944 auf, eine andere Zufluchtsstätte zu finden. Doch während ihrer Abwesenheit geschah es am Morgen des 6. April, dem ersten Tag der Osterferien, als die Kinder gerade dabei waren, ihr Frühstück vorzubereiten, dass zwei Lastwagen der Wehrmacht und ein Dienstwagen der Gestapo die 44 Jungen und Mädchen, den Ehemann von Sabine Zlatin und sechs Erzieher festnahmen und ins Lager von Drancy brachten. Der Befehl dazu stammte vom Leiter der Gestapo in Lyon, Klaus Barbie, einem Mann, der für seine an Wahnsinn grenzende Besessenheit berüchtigt war, Juden und Widerstandskämpfer zu jagen, die er dann mit hemmungsloser Leidenschaft allen möglichen Foltermethoden unterwarf, deren genialer Erfinder er sich zu sein rühmte.

      Am 15. April 1944 wurden Fritz Löbmann und Otto Wertheimer, damals 15 und 12 Jahre alt, in einem Konvoi zusammen mit 30 anderen Kindern von Izieu nach Auschwitz deportiert. Am Tag ihrer Ankunft wurden sie vergast.

      Zwei Jahre zuvor waren die Eltern von Otto Wertheimer, Hedwig und Wilhelm, und die Mutter von Fritz Löbmann bereits nach Drancy überführt worden. Am 17. August wurden sie mit dem Konvoi Nummer 20 verschleppt. Endstation: Auschwitz. Am 2. September war es dann Siegmund, der nach Drancy kam, er wurde am 7. September mit dem Konvoi Nummer 29 deportiert. Endstation: Auschwitz. Seine Einsamkeit wird seine Notlage nur noch schlimmer gemacht haben. Seine Frau Irma stand auf der Liste der zu Deportierenden des Lagers Les Milles, dürfte aber wohl in letzter Sekunde gerettet worden sein, und dies womöglich von Medizinern, die ihre Notaufnahme im Krankenhaus von Aix-en-Provence verlangten.

      Julius Löbmann stand ebenfalls auf der Liste, war jedoch nicht auffindbar. Ihm war die Flucht gelungen. Da es so gut wie unmöglich war, aus Les Milles zu entkommen, musste Julius während einer seiner alltäglichen Wege ins nahe gelegene Dorf Saint-Cyr-sur-Mer geflohen sein, wo er als Teil eines Trosses von Zwangsarbeitern im Dienste der französischen Industrie und Landwirtschaft (GTE) arbeitete. Er muss sich wohl unversehens entschieden haben, als er begriffen hatte, dass seine Familie nicht entkommen würde. Er allein konnte fliehen, die anderen saßen im abgeschlossenen Bereich des Lagers in der Falle. Ich stelle mir vor, wie er sich von seiner Frau verabschiedet, von seinem Sohn, seinem Bruder, seinem Schwager und in der Nacht vor seiner Flucht kein Auge zugemacht hat. Und dann am eigentlichen Tag, an dem es galt, den richtigen Moment zu erfassen, um sich davonzustehlen, um in die Pinienwälder von Saint-Cyr-sur-Mer zu verschwinden oder auf dem Rückweg vom Wagen abzuspringen.

      Die Chancen für einen geflohenen Juden, der ohne Geld, ohne Kontakte und ohne irgendwelche Kenntnisse über Frankreich sich selbst überlassen war, waren unter einem Regime, das mit Deutschland kollaborierte und aus freien Stücken antijüdische Verordnungen eingeführt hatte, äußerst gering. Es sei denn, das Schicksal entschied sich, großmütig zu sein und ihn mit einem dieser mutigen und mitfühlenden Franzosen zu begünstigen, die während des Krieges Juden in ihren Kellern oder auf ihren Dachböden versteckt hielten und ihnen regelmäßig heimlich brachten, was zum Überleben reichen musste. Aber selbst dieses Szenario konnte tragisch enden, wenn der Schutzengel denunziert und von der Gestapo oder der französischen Polizei verhaftet wurde und seine Schützlinge gefangen oder in ihren Löchern ohne irgendeine Hilfe zurückblieben.

      Wer auf sich allein gestellt blieb, der musste schlau und verwegen sein; und schenkt man Lotte Kramer Glauben, so war Julius dies. Um nicht Gefahr zu laufen, seine Herkunft preiszugeben, gab er sich als taubstumm aus und ließ sich in einem großen Hotel an der Côte d’Azur wahrscheinlich irgendwo in der italienisch besetzten Zone zwischen Nizza und Menton als Liftboy anheuern. Ich weiß nicht, ob sein Patron geahnt hat, mit wem er es zu tun hatte, er besaß jedoch die Güte, trotz der fehlenden Papiere dieses ulkigen Kerls mit Pupillen so blau und Haaren so blond wie bei einem Deutschen ein Auge zuzudrücken.

      Nach dem Einmarsch der Deutschen in die italienische Zone muss Julius miterlebt haben, wie Offiziere der Wehrmacht und der SS in dem Hotel abgestiegen sind. Wie viele Male täglich hat er wohl das Martyrium erleiden müssen, diese Männer auf ihre Etage zu fahren, in der Enge der Aufzugskabine ihre Uniformen zu streifen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen, seine Hände zittern zu fühlen, wenn er den Knopf bediente, und sein Herz vor Angst trommeln zu spüren, dass ihm ein Blick, ein Reflex passieren mochte, ein »Bitte schön« oder ein »Danke« oder ein »Guten Morgen« – ein einziges Wort auf Deutsch und er wäre verloren gewesen. Im Sommer 1944 wurde er von diesem Druck befreit, als die Truppen der Alliierten in der Normandie und später in der Provence landeten und die Besatzer aus Frankreich verjagten. Vielleicht ging er nach Drancy in der Hoffnung, dort seine Lieben wiederzufinden, und erfuhr dann, dass alle Gefangenen nach Auschwitz gebracht worden waren. War Julius in diesem Moment bereits klar, wofür der Name Auschwitz stand?

      Seit dem Sommer 1941 wussten die Briten, dass die Kommandos der SS, deren Funkverschlüsselung sie dechiffriert hatten, im Osten Europas Massaker anrichteten. In der Folgezeit gab es dafür immer mehr Indizien, die den Alliierten aus unterschiedlichen Quellen der deutschen Armee, von Vertretern der jüdischen