im gesellschaftlichen Leben war ebenso erbarmungslos: Verbote für Juden, ins Kino zu gehen, auf Bälle, ins Theater, in öffentliche Schwimmbäder; Ausschlüsse aus den Sporthallen und bei sämtlichen Arten von Vereinen. Es gibt ein Foto, auf dem Frauen und Männer in Badekleidung zu sehen sind, die ganz offensichtlich zu Tode erschrocken über Bootsanleger im Rhein bei Mannheim laufen, um den paramilitärischen SA-Angehörigen zu entkommen, die sich zu den Badenden gesellten, um Juden niederzuknüppeln. Diese Szene ging dem nächsten, noch umfassenderen Schritt beim Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft voraus: den Nürnberger Rassengesetzen von 1935, die sie zu Bürgern zweiter Klasse degradierten und sie der Rechte beraubten, die einem deutschen Staatsbürger zustanden.
Ihre ganze Jugend lang verfolgte Lotte die rapide Verelendung der jüdischen Lebenswelt. Sie erinnert sich deutlich: »In meiner Klasse gab es fünf Jüdinnen, und auch wenn wir kein ausgeprägtes politisches Bewusstsein hatten, so verstanden wir doch, dass die Situation für uns schlimmer war, wir sprachen nur unter uns darüber. Unsere Mütter hatten sich verändert, sie waren besorgt, wir mussten unmittelbar nach der Schule nach Hause kommen, durften mit niemandem sprechen.« Eines Tages erklärten die Eltern ihr, dass sie keine deutsche Schule mehr besuchen dürfe und in eine jüdische Anstalt umgeschult werden müsse. »Der Lehrer war sehr nett, er entschuldigte sich gegenüber unseren Eltern und schlug sogar vor, abends Nachhilfestunden zu geben, sollten wir sie benötigen.«
Trotz dieser Verfolgung hatten 1936 nur 1.425 der insgesamt 6.400 Juden aus Mannheim die Stadt verlassen, während sich auf nationaler Ebene von der Gemeinde mit mehr als 500.000 Juden etwa 150.000 ins Exil begeben hatten. Vermutlich waren es jene, die schon am meisten gelitten hatten, da sie politisch engagiert waren, ihren Beamtenposten verloren hatten oder ihr Geschäft bankrottgegangen war. Paradoxerweise sollten sie dem Schicksal später dafür danken, die ersten Opfer gewesen zu sein, was sie zur rechtzeitigen Abreise motiviert hatte.
Weil es den Löbmanns mehr schlecht als recht gelang, ihre Geschäfte fortzuführen, war zu emigrieren für sie lange keine Option, so wie wohl für die meisten Juden in Deutschland, und sei es auch nur, weil es bedeutet hätte, das eigene Vermögen den Nazis zu überlassen. Wie so häufig im Dritten Reich war der Umgang mit Juden von einem tiefen Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite wollten die Nationalsozialisten ihnen das Leben möglichst unerträglich machen, um sie zur Auswanderung zu bewegen. Auf der anderen Seite aber stellten die Behörden ihrem Fortzug unüberwindbare Schwierigkeiten in den Weg. So stieg die Steuer auf Devisentransfers aus Deutschland heraus bis 1934 auf 20 Prozent und bis 1939 auf einen mehr als abschreckenden Satz von 96 Prozent. Hinzu kam die Reichsfluchtsteuer: Ab einer Summe von 50.000 Reichsmark mussten die Emigranten dem Regime 25 Prozent ihres Gesamtvermögens und Einkommens abtreten. Ganz zu schweigen von dem Verwaltungslabyrinth, das es zu durchlaufen galt, wollte man legal auswandern.
Im Grunde aber lag das wesentliche Motiv der Abneigung der Juden gegen eine Auswanderung darin, dass sie gar keine Lust hatten, ihre Heimat zu verlassen, um sich in einem Land wie Palästina niederzulassen, einer Halbwüste mit kargem Klima und einer Kultur, die ihnen unendlich fremd war. Denn sie liebten Deutschland zutiefst.
Wie konnten sich die Löbmanns und die vielen anderen nur weiterhin einem Land verbunden fühlen, das sie dergestalt misshandelte, und warum haben sie nicht erkannt, wie ernst die Lage bereits für sie war?
In Wirklichkeit war die Gefahr für eine Unternehmerfamilie wie die Löbmanns gar nicht so deutlich lesbar, da zunächst keine nationalen Gesetze gegen jüdische Unternehmen erlassen wurden, was die Illusion aufrechtzuerhalten half, dass es Juden trotz allem möglich war, wirtschaftlich im Dritten Reich zu existieren und zu überleben. Und dies nur umso mehr, als sich zur Abfederung der Auswirkungen der Boykottbewegung eine ökonomische Parallelwelt herausgebildet hatte, die ausschließlich aus jüdischen Unternehmern, Händlern und Kunden bestand.
Hinzu kam Selbstverblendung. Lotte Kramer, deren Vater »ununterbrochen wiederholte, dass er nicht fortgehen wollte«, erklärte mir, der Wille ihrer Familie dazubleiben, sei so stark gewesen, dass jedes kleine Zeichen von Solidarität innerhalb der deutschen Gesellschaft genügt habe, um sie zu beruhigen. »In der Schule hatte ich eine nicht jüdische Freundin. Als die Juden die Schule verlassen mussten, sagte deren Mutter zu meiner: ›Ich will, dass unsere Töchter Freundinnen bleiben.‹ Es war dann meine Mutter, die sie davon überzeugen musste, dass dies zu gefährlich war. Aber diese Reaktionen schenkten neues Vertrauen.«
Man teilte positive Erlebnisse miteinander, etwa jenes von einem Pärchen, das der Polizei dummes Zeug erzählt hatte, um seine bedrohten Nachbarn zu decken, oder das vom kleinen, anonymen Koffer voller Medikamente, den eine gute Seele vor der Haustür einer jüdischen Familie abgestellt hatte, deren Kinder krank waren. »Meine Eltern hatten sehr enge nicht jüdische Freunde, Greta und Bertold, die abends, als sich die Lage bereits verschlechtert hatte, heimlich zu uns kamen, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei, und uns dabei Sachen brachten, die zu besorgen für uns kaum mehr möglich war. Sie gingen ein ziemlich hohes Risiko ein.« Die Tragik dabei aber war, dass diese Herzensseelen mit ihrer gut gemeinten Hilfe, ohne es zu wissen, die Gemeinde noch ermutigten, weiterhin das Beste zu erhoffen, obwohl es zu dieser Zeit noch möglich gewesen wäre, der Falle zu entkommen, von der niemand ahnen konnte, wie tödlich sie sein sollte.
Ich habe über die Solidaritätsbekundungen nachgedacht, die den Löbmanns das Herz erwärmt haben mussten, und ich glaube, es war vor allem die Treue zumindest eines Teils ihrer Kundschaft. Ich habe eine mehrseitige Liste gefunden, die Opa mit der Firma übernommen hatte. Dieser lange Parademarsch an Namen erzählt von einem anderen Deutschland, von jenen Menschen nämlich, die ihre Loyalität nicht aufgekündigt hatten.
Lotte Kramer liefert mir noch eine andere Erklärung für deren Illusion: »Wir hatten das Gefühl einer gewissen Normalität, denn innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ging das Leben weiter. Vielleicht war die Ausgrenzung auf dem Land und in den Dörfern schneller spürbar gewesen, aber in großen Städten wie Mainz und Mannheim konnte man die Verbote leichthin vergessen, da alles intern gelebt wurde. Es gab die jüdische Schule, den jüdischen Sportklub, Tanzkurse, Feste, Konzerte und viele Freunde … Und es gab die Synagoge, sie spielte eine wichtige Rolle im Zusammenhalt der Gemeinschaft. Die Löbmanns, sie gingen regelmäßig zur Synagoge.«
Die kleinen, mir von Lotte gelieferten Hinweise waren entscheidende Teile des Puzzles, die mir gefehlt hatten, um zu begreifen, warum die Löbmanns und mit ihnen die große Mehrheit der Juden bis zur letzten Minute geglaubt hatten, in ihrem Land weiterhin eine erträgliche Existenz führen zu können und dass ihr Heimatland wieder zur Besinnung kommen und endlich aufhören würde, Juden zu verstoßen, die den Wissenschaften, der Philosophie, der Literatur, den Künsten und der Wirtschaft unzählige Talente geschenkt hatten, ohne die Deutschland niemals auf so vielen Gebieten solch strahlende Erfolge hätte feiern können. Am Ende hatten sie sich eher mit dieser erniedrigenden Behandlung abgefunden, als den Exodus zu wählen.
Darum musste die Familie Löbmann alle Hoffnung aufgegeben haben, als sie sich schließlich doch entschied fortzugehen. Von 1936 an begann das Regime, das bis dahin einer »Entjudung« der Wirtschaft keine Priorität gegeben hatte, das Ruder herumzureißen. Die Arbeitslosigkeit war stark zurückgegangen, die Wirtschaftskrise überwunden, von nun an galt die Arisierung jüdischer Güter als vorrangiges Ziel. 1938 erließ Berlin immer mehr Sonderregelungen für jüdische Unternehmen, mit denen deren Inhaber, die ihre Firmen bislang nicht verkauft hatten, gezwungen werden sollten, diese an »Arier« zu übertragen. Für die Firma Siegmund Löbmann & Co. lag der erste Schlag in der drastischen Senkung der den Juden bewilligten Einkaufsquoten von Werkstoffen, was sich auf den Handel mit Erdölprodukten fatal auswirkte. Dann wurden sie gezwungen, in einem Verzeichnis detaillierte Angaben über die Gesamtheit ihrer Besitztümer einzutragen: von Immobilien über Betriebsvermögen, Versicherungen, Wertpapiere, Bargeld, Schmuck, Kunst bis hin zu ihrem vollständigen Haushalt. Eine weitere Verordnung verlangte schließlich, dass alle jüdischen Firmen als solche erkennbar waren. Gleichzeitig verschärften die Nationalsozialisten die politische Verfolgung der jüdischen Gemeinde: Polizeirazzien, willkürliche Internierungen, Zerstörungen von Kultstätten. Diese alarmierende Entwicklung dürfte es gewesen sein, die Siegmund und Julius überzeugte, sich von ihrer Firma zu trennen, um mit dem Verkaufserlös ihre Auswanderung zu finanzieren. Aber sie waren nicht die Einzigen,