Ursula Walser-Biffiger

Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen


Скачать книгу

unerbittlich sind sie, wenn gegen ihre Ordnung verstossen wird.

      Dass hinter ihnen mehr steckt als Fantasiefiguren, zeigen Erfahrungen heutiger Menschen, die sie wieder in ihr Leben gelassen haben. Und die bedeutende Stellung, die ihnen zukommt, belegt eine Fülle von neuen Entdeckungen und Einsichten aus den Bereichen Frühgeschichte, Archäologie, Mythologie, Kulturanthropologie, Etymologie, Religionswissenschaft, Matriarchats- und Sagenforschung.3 Es erschliesst sich uns über Kontinente und Zeiten hinweg ein Weltbild und eine Zivilisation, die auf der Würdigung des Kreislaufs von Werden, Vergehen und Wiederkehren beruht – repräsentiert in einer weiblichen Gestalt, die ihren Widerhall auch in den Walliser Sagen findet.

      Wir alle wurden aus einer Mutter geboren. Als Sinnbild dieser Lebenswirklichkeit stand für sehr lange Zeit in der Menschheitsgeschichte eine Grosse Ahnfrau am Anfang der Schöpfung. Sie war Gebärerin, Ernährerin, Bewahrerin alles Lebendigen: eine Urmutter oder Urgöttin. Nicht in einem entfernten Jenseits war sie zu finden, sie war die Erde selbst – worauf der Ausdruck «Mutter Erde» noch heute verweist. Sie war das Land und das Wasser, die Luft und das Feuer, die Jahreszeiten und das Sternenzelt. Auch die Mondgöttin war sie, die Wandelbare, und sie schuf alle Kreisläufe von Schöpfung, Wachstum, Verfall, Zerstörung und Neuwerdung.

      Von ihr erzählen älteste Mythen aus der ganzen Welt, auch Höhlenmalereien und Ritzzeichnungen, deren Entstehung auf Zehntausende von Jahren zurückdatiert werden. Von ihr zeugt ebenso die weltweit aufgefundene, überwältigende Anzahl von nackten Frauenfigurinen aus der Alt- und Jungsteinzeit. Die uns bekannteren sind die Ahnfrau von der Schwäbischen Alp (40 000 v. Chr.), die Ahnfrau von Willendorf und die Ahnfrau von Laussel (beide datiert auf vor 20 000 v. Chr.). Auch spätere Relikte aus dem Alten Europa, Keramik, Architektur, Begräbnissitten, zeigen in einer Art symbolsprachlichen Gemeinsamkeit auf, dass die Menschheit während der längsten Zeit ihres Bestehens in starker Verbundenheit stand zur Grossen Ahnfrau – Quelle und Beschützerin allen Lebens.

      Der Platz und die Bedeutung dieser Urmutter wurden im Laufe der Zeit zuerst von verschiedenen Göttinnen eingenommen, sie alle waren Teilaspekte oder eine Emanation der Einen. Dann traten Götter an ihre Stelle, und schliesslich übernahm der alleinige Gott, der niemanden mehr neben sich duldete. Im Volke aber hat sich die Vorstellung einer schützenden, wohlwollenden mütterlichen Kraft und Macht im Untergrund und in wandelbarer Gestalt bis heute erhalten – trotz Durchsetzung des Christentums, trotz Inquisition, in der ihre letzten Spuren ausgerottet werden sollten, und der Aufklärung, die ihr als Aberglauben den Garaus machen wollte. Es scheint fast, als ob die Grosse Ahnfrau sich für einige Zeit verstecken wollte. Doch wer bereit ist, die Grenzen des üblichen Denkraums zu öffnen, findet ihre Zeichen überall – auch in den Sagen des Alpenlands.

      Bevor wir ihre Fährte aufnehmen, versuchen wir nachzuvollziehen, wie die alten Völker die Ahnfrau erlebt haben mögen. Kann sein, dass die Menschen der Urzeit anfänglich ihre Mutter, Grossmutter und vielleicht noch Urgrossmutter namentlich erinnerten und würdigten. Dann aber entrückte die Ahnfrau ins Mythische und begann, göttliche Züge anzunehmen: Sie ist Schöpferin, die Nährende und zugleich selbst die Nahrung. Sie ist die Luft, die wir atmen, die Quelle, aus der wir schöpfen, das Brot, das wir essen. Sie ist der Inbegriff aller lebendigen Kräfte, die schöpferische Urkraft. Sie bringt nicht nur ihre Geschöpfe hervor, sondern auch die Weisheit und eine ordnende Kraft, die ihr innewohnt.

      Die Menschen lebten im Leib und in der natürlichen Ordnung dieser Mutter; sie verehrten sie in der Landschaft, nahmen sie in ihrer magisch-mythischen Sehweise wahr an Orten, wo sich ihre weibliche Kraft in der Natur manifestierte: in einem Berg, der ihrer Gestalt oder ihrem Busen gleich in den Himmel ragt, in einer vulvaförmigen Gletscherspalte oder Höhle, in der sanften Rundung eines Hügels, im lebensbringenden Wasser der Quellen und Bäche. Oder sie zeigte sich den Menschen als Schlange, Drache oder Kröte, in Gestalt eines Baumes, als Wildfrau oder als Weisse Frau – Göttin des Lichts, der Firne, Gletscher und Bergbäche.

      Sie war die Ahnfrau, die für alles sorgte, was zum Leben nötig war. Das war vor allem Wasser. Ihr Name ist oft mit diesem Element verbunden und lautet Ana/Dana/Danu, zurückzuführen auf ein vorindoeuropäisches Wort, das Wasser bedeutet.4 Überall im Alten Europa und im Vorderen Orient wurden Göttinnen unter diesem Namen verehrt, und er findet sich teilweise noch in Landschaftsbezeichnungen und Sagengestalten, auch im Wallis.

      Die Grosse Ahnfrau wurde lokal erlebt. Sie ist verbunden mit der Landschaft und mit ihrem Volk. Sie ist die grosse Spinnerin des Lebens, die Weberin des Schicksals und schliesslich die Todesgöttin, die alle Geschöpfe zurück in ihren Schoss nimmt. Sie ist die Präsenz, aus der alles entsteht und zu der letztlich alles zurückkehrt.

      Die Sagen erzählen nicht nur von der umfassenden Macht und Kraft und vom Wirken der Grossen Ahnfrau, sondern auch von deren Vertreibung aus dem Denken und Fühlen der Menschen. Doch wir wissen: Sie ist auch Heilerin und Wiedergebärerin, trägt viele Namen und zeigt sich den Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten und in vielfältigen Erscheinungsformen. Wir haben die Chance, sie neu für uns zu entdecken.

image

      Rittplatte oder Ahnenstein, Guggistafel, Lötschental

image

      Matterhorn, Zermatt

image

      Kultstein, Ochsenfeld, Binntal

image

      Guggisee, mit Anen- und Langgletscher, Lötschental

image

      Schneewehe

      Die drei Schicksalsfrauen an der Rhonequelle

       Gletsch

      Vor vielen tausend Jahren, als der Rhonegletscher seine gewaltige Zunge aus der Gegend der heutigen Stadt Lyon bis in den Talkessel der damals noch nicht existierenden Siedlung Gletsch zurückgezogen hatte, wanderten die drei Schicksalsfrauen über die Berge. Sie wollten nach dem Rechten sehen in dem Land, das durch Eis und Wasser in den Untergrund gegraben, gehobelt und geschliffen worden war. Es war das Urmuster eines Tales, das die Römer viel später Wallis nannten.5

      Noch hatte sich hier niemand niedergelassen. So waren die Schicksalsfrauen unterwegs, um diese karge Gegend für Pflanzen, Tiere und Menschen vorzubereiten, die sich hier ansiedeln wollten. Sie wanderten entlang der gewaltigen Gletscherzunge mit ihren Rissen und Schründen. Wasser rauschte, und ein kalter Luftzug kam aus tiefen, bläulich schimmernden Spalten. Mit Leichtigkeit sprangen die drei Frauen über Bäche, die sich aus den vielen Rinnsalen des Gletschers an seinem Ende bildeten.

      Jede Frau trug einen Stab in der Hand, der eine war mit einem Bergkristall, der zweite mit einer Muschel, der dritte mit einem Knöchelknochen verziert. Mit ihnen suchten die Schicksalsfrauen im Talgrund nach einem geeigneten Platz für ihr Wirken. Hinter einem gewaltigen Tschuggu, einem abgeschliffenen Felsen, den der Gletscher hier zurückgelassen hatte, schlugen sie die Stäbe in den Boden. Zischend trat heisser Dampf aus den Öffnungen, Erddünste breiteten sich aus und eine Mulde füllte sich mit warmem Wasser.

      Alsbald lagen die drei Frauen in dieser wohligen Wärme, und in bester Schöpferinnenlaune begannen sie, das Netz des Lebens in diesem Tal zu erwecken. Die Kristallfrau hob ihren Stab und rief die Kraft und Schönheit der Blumen und Pflanzen, die Seelen der Tiere und Menschen. Die Muschelfrau beschwor ihre Verbindung zum Meer, wo alles Leben einst begonnen hatte und wohin das Quellwasser fliessen sollte. Sie versprach Nahrung, Schutz und Hilfe für alle Wesen. Die Knochenfrau wusste um Wandlungen und Verwandlungen, um Grenzen und Übergänge, um den Tod und die Zuversicht, dass das Leben weitergeht. Leise und sanft sangen die Schicksalsfrauen ihre Melodien. Und mit dem Wasser, das mittlerweile aus drei Quellen floss, ergoss sich ihr Segen in den Gletscherbach und durchs ganze Tal.