Kulturen und Epochen bekannt. Einer der ältesten Mythen ist jener von Tiamat, der sumerisch-babylonischen Ur- und Schöpfungsgöttin, Göttin des Chaos und des Unerschaffenen. Sie ist der Urzustand, das Allumfassende, das Wüste und Leere – unter diesem Namen kommt sie auch in der Bibel vor (Genesis 1,2). Sie gilt als Muttergöttin von allem, als Grosse Drachin des Chaos, die aus sich heraus die Welt erschaffen hat. Und ihre Schöpfung hat kein Ende. Immer wieder nimmt sie ihre Geschöpfe in die Tiefe ihres Universums, um sie dann erneut zu gebären.11
Die Kirche hat ein eher gestörtes Verhältnis zu den Drachenenergien von Mutter Erde. Der Drache wurde zum Bösen an sich und mit dem Teufel gleichgesetzt. Erzengel Michael und Ritter Georg erschienen, um den Drachen zu besiegen, was auch eine Analogie zum Sturz der Muttergöttin durch eine männliche Gottesvorstellung ist.
Natürlich verschwinden solche elementaren Kräfte nicht einfach, auch in der bildlichen Darstellung nicht. So liess sich die Drachin zu Füssen der Gottesmutter nieder oder wurde zum Wurm der heiligen Margaretha. Diese beiden Frauengestalten wussten auf ihre Art, die alte Dämonin zu zähmen, und so ist sie heute im Wallis noch in vielen Kirchen und Kapellen zu bestaunen.
Die strickende Holzmiättärra
Lötschental
Zuhinterst im Lötschental soll einst die Holzmiättärra gelebt haben. Sie war im hohen Alter und mancherorts wurde berichtet, sie sei unsterblich. Man war sich nicht einig, ob das Holzmütterlein zur Gattung der Zwerge oder der Riesinnen zu zählen sei. Auf jeden Fall galt sie als bärenstark, und vor allem Frauen wussten ihren verständnisvollen Rat und ihren Schutz zu schätzen. Wer sich ihr gegenüber respektvoll verhielt, konnte auf ihre Unterstützung zählen. Wer jedoch ihre Gesetze nicht einhielt, lebte gefährlich.
Die Menschen waren davon überzeugt, dass sich das Holzmütterlein in einen Baum verwandeln konnte oder in den ganzen Wald – vor allem dann, wenn es darum ging, den Lawinen zu trotzen und die Dörfer zu beschützen. Und sie konnte noch mehr. Ihre hohle Lärche im Riedholz beherbergte die Seelen der Ungeborenen. Dorthin gingen die Lötschentalerinnen, wenn sie ein Büblein empfangen wollten. Mädchen waren im Wasserhuis zu finden, einem bedachten Wassertrog oberhalb von Blatten. Auch in den Felsrücken der Fafler- oder der Guggialp warteten Kinderseelen darauf, wieder ins irdische Leben geholt zu werden. Die Zeit dazu war besonders günstig, wenn beim Kinderrufen die Holzmiättärra mit ihrer Lismeta, ihrer Strickarbeit, dabeisass und zur Feier des Tages den gewaltigen Tschuggen abgelegt hatte, den sie sonst wie einen Hut auf dem Kopf trug.
Im Verlauf der Jahrhunderte jedoch ging das Wissen um die Kraft und Macht der Holzmiättärra zunehmend verloren. Nur noch Kinder konnten sie wahrnehmen. So erschien sie eines Tages mit einem viele Zentner schweren Stein in der Tschifra im Geryndorf. Und trotz der enormen Last, die sie in ihrem Rückenkorb trug, strickte sie dabei. Darüber machten sich die Buben im Dorf lustig. Sie spotteten über die Holzmiättärra und lachten sie aus. Das war nun doch zu viel. Zornig schleuderte diese den Felsblock auf den Boden, mitten im Dorf, und zwar so, dass die schmalste Kante nach unten zu liegen kam. An dieser Stelle ist der Felsblock noch immer zu finden – mit dem Kreuz, das man ihm zu seiner Verchristlichung einverleibt hat.
Wer beim Gerynstein rastet und nachsinnt, kann heute noch erleben, dass dies ein Ort ist, an dem es leichter fällt als anderswo, die Verbindung mit der unsichtbaren Welt und den Segen zu spüren, der sich von hier aus über das ganze Tal ausbreitet.
Nach Guntern 1979, Nr. 412 und 1942
Mutter Erde, Schöpferin und Erhalterin des Lebens, wurde von den Menschen seit jeher lokal erlebt – dort, wo sie wohnten. Im Lötschental ist die Landschaftsahnin Holzmiättärra auch unter einem anderen Namen bekannt: Aanu. Es gibt zuhinterst im Tal einen Aanugletscher, einen Aanusee und einen Aanubach. Diese Bezeichnungen sind uralt, stammen aus einer vorindoeuropäischen Sprache und sind zurückzuführen auf die bereits erwähnte Ana/Anu/Dana – eine Erd- und Wassergöttin, die überall im Alten Europa und im Vorderen Orient verehrt worden ist (siehe S. 32 und 59).
Diese Grosse Ahnfrau zeigte sich allerorts in rautenförmigen Bergen, Felsbrocken oder Menhiren in ihrer Steingestalt. Die Raute war offenbar von alters her ein Bild für den weiblichen Körper, und schon in der Altsteinzeit stellten die Menschen die ersten Figurinen der Urmutter in dieser Form dar. Im Bündnerland werden bestimmte rautenförmige Felsformationen noch immer Muma Veglia (alte Mutter) genannt, und es sind Bräuche zu ihrer Verehrung noch bis weit in die christliche Zeit hinein bekannt. Knaben, die erstmals auf der Alp waren, mussten sie zum Beispiel küssen.12
Auch der Gerynstein, von dem die Sage berichtet, hat die Form einer Raute. Interessanterweise wird er heute von den Einheimischen noch Chees-Chessin genannt, also Käse- oder Alpkessel. Dabei ist anzumerken, dass der Kessel Alltagsgegenstand, zugleich aber auch ein Gefäss mit grosser symbolischer Bedeutung ist. Diese zeigt sich in seiner empfangenden, runden Form, die von jeher mit dem mütterlichen Schoss, der das neue Leben trägt und gebiert, in Beziehung gebracht und kultisch verehrt wurde.13
Zurück in den Schoss der Erdenmutter kehren auch die Seelen der Verstorbenen. Und nach einer Zeit der Regeneration können diese an bestimmten Orten in der Natur wieder ins irdische Leben drängen und dort von den Frauen empfangen werden. So glaubten und erfuhren es die Menschen der vorchristlichen Zeit. Relikte dieses Weltbilds sind im Lötschental noch immer zu finden.
Bis in die 1970er-Jahre existierte im Riedholz bei Kippel eine hohle Lärche, die als Kinderherkunftsbaum bekannt war. Felsrücken auf der Fafler- und der Guggialp galten ebenfalls als Orte, wo die Kinderseelen geholt werden konnten (siehe S. 136).
Der Holzmiättärra-Stein ist von Blatten, dem hintersten Dorf im Lötschental aus, am rechtsseitigen Berghang zu sehen. Vom Geryndorf, einer ehemaligen Siedlung, sind nur noch Ruinen zu finden.
Weitere Sagen zur Kinderherkunft bzw. zur kultischen Bedeutung des Kessels:
Vom alten Brauch des Kinderholens, Seite 136
Das Geheimnis der Kindbetterfluh, Seite 139
Im Kessel der Holzmüotterlini, Seite 223
Die Gämsmutter beim Langgletscher
Lötschental
Hinten beim Langgletscher im Lötschental lebte eine alte Frau, die man Gämsmutter nannte, weil sie die Gemsen pflegte und hütete.
Da war im Tal ein Jäger, der ihr manches Tier wegschoss. Einmal, als er wieder auf die Jagd zog, stellte sie ihn und sagte: «Ach, warum raubst du mir meine schönen Tierchen, tue es nicht mehr und lass mir meine Herde in Ruh, ich will dich dafür entschädigen!»
«Was willst du mir tun, du Alte?», entgegnete der Jäger in spöttischem Ton. «Ich schenke dir ein Käslein, und wenn du achtgibst, dass am Abend noch ein Restchen davon übrig bleibt, so wirst du es am andern Morgen wieder frisch und ganz vorfinden!»
Der Jäger war damit zufrieden, nahm das Gämskäslein, das ihm die Alte schenkte, und steckte es in die Tasche. Jeden Tag ass er es bis auf ein Restchen auf, und jeden Morgen lag es wieder frisch und ganz auf seinem Tisch.
Einst legte er das Käslein in einer Sennhütte auf die Bank. Er vergass es, als plötzlich Gämsen um die Hütte herumstrichen und er die Flinte ergriff und ein Tier erlegte. Als er wieder in die Hütte zurückkam, hatten die Mäuse den Käse samt der Rinde aufgefressen. Das schöne Geschenk der Gämsmutter konnte er nun nicht mehr geniessen.
Nach Jegerlehner 1913, Nr. 59