her und schufen ihre Siedlungen. In ihrer hellhörigen Art konnten sie noch jahrhundertelang wahrnehmen, wie die Wünsche und das Lachen der drei Frauen in der Landschaft nachklangen. Hirtinnen, Jagdvolk, Säumer und Reisende rasteten bei dem warmen Wasser und wussten dessen Heilkraft zu nutzen.
Diese Quellen galten den einheimischen Menschen bis im 18. Jahrhundert als Ursprung der Rhone. Besonders verehrt hat man die Quelle, die einen rötlichen Niederschlag absonderte und deshalb die Rothe hiess.6 Sie gab ihren Namen wohl auch dem Gletscherbach Rhone, der bis in unsere Zeit hinein im oberen Wallis Rotten oder Rottu genannt wird.
Doch längst ist die rote Quelle gefasst; das Hotel Glacier du Rhône nutzt sie zu Heizzwecken. Der Gletscher, der heute vom Talgrund aus nicht mehr sichtbar ist, gilt nun offiziell als Quelle der Rhone. An schönen Sommertagen wälzt sich der Verkehr der Passstrassen von Grimsel und Furka durch die Siedlung Gletsch. Doch noch immer soll es vorkommen, dass Menschen, die sich auf den Moränenhügel bei der kleinen Kapelle und zu den Quelltümpeln zurückziehen, ganz unvermittelt die ursprüngliche Heiligkeit des Ortes erfahren.
Frei erzählt
Die Ahnfrau des Landes zeigt sich oft in dreifacher Gestalt. Auch der Walliser Sagenforscher Josef Guntern hat in seiner Sammlung drei Frauen beschrieben (Guntern 1979, Nr. 1159). Es sind wehmütige Geistwesen, die mit ihren Stöcken im Aletschgebiet gesichtet, in ihrer mythologischen Bedeutung nicht mehr erkannt und so zu Armen Seelen degradiert worden sind. Doch im Kessel des Gletschervorfelds der Rhone können sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigen: Sie sind die Begründerinnen der ganzen Talschaft, die drei Schicksalsfrauen, wie man sie überall auf der Welt gekannt und verehrt hat.
Der Dreifrauenkult ist eine Mythologie, die auf allen Kontinenten anzutreffen ist und aus vorgeschichtlicher, mutterorientierter Zeit stammt. In Nordeuropa nannte man die drei Schicksalsfrauen Nornen, in Rom Parzen, in Griechenland Moiren und bei den Kelten Bethen. In den Sagen und Märchen erscheinen sie als drei Weisse Frauen, drei Schwestern oder drei Spinnerinnen, die den Lebensfaden führen, ihn aber auch trennen. Sie spinnen das Glück und weben das Schicksal. Man nannte sie auch Matronen oder Matres. Sie waren die Urmütter, die man anrief, um Heilung, Segen und Schutz zu erlangen. Sie erschienen in dreifacher Gestalt, wohl weil man versuchte, sie in ihrer umfassenden Ganzheit zu verstehen: als Schöpferin, als Lebenserhalterin und als Todesmutter.
Während der Christianisierung bot die Kirche Gegenbilder wie die Drei Marien, die dreigestaltige Anna oder die drei Nothelferinnen Margaretha, Barbara und Katharina. Diese heiligen Frauen sind im Wallis auf vielen Altären zu finden, so zum Beispiel auf dem linken Seitenaltar in der Marienkirche in Münster. Von den Nothelferinnen hiess es im Alpenraum: «Margaretha mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl.»7
Auch die Rhone trägt noch den Namen einer Erd- und Wassergöttin. Flussnamen sind oft sehr alt, und das Wallis, die Westalpen und das Rhonetal sind frühe Besiedlungsregionen. Bei den Griechen heisst der Fluss, der das Wallis durchfliesst, Rodanos, und bei den Römern Rhodanus. Doch dieser Name ist höchstwahrscheinlich weder griechisch noch römisch, keltisch oder indogermanisch, sondern wohl vorindoeuropäisch oder alteuropäisch. Die Silbe *dan im Namen Ro-dan-os ist eine sehr alte Bezeichnung für Wasser. Gleichzeitig finden wir diese Wortwurzel auch bei der Erdgöttin Ena/Ana/Anu/Dana/Danu. Sie war die altorientalische und alteuropäische Muttergöttin. Da *dan und *an Wasser oder Quelle bedeuten, tragen es viele Flüsse in ihren Namen: so etwa die Donau (Danuvius), der Inn (Ainos), der Rhein (Rhenus) oder eben die Rhone (Rhodanos).8
Vouivra, die Fluss- und Drachenschlange
verschiedene Orte
Von den Anhöhen aus konnten unsere Vorfahrinnen und Vorfahren die Rhone von oben betrachten. In ihrer mythischmagischen Sichtweise erlebten sie den Strom mit seinen Nebenflüssen wohl als Drachen, dessen Glieder sich auf beiden Seiten des Haupttals bis hinauf zu den Gletschern, Graten und Gipfeln ausbreiten.9
Die Menschen erfuhren die Wasserdrachin als Lebenskraft, die durch die Täler fliesst, und als Erdschlange, die unter den Flüssen oder in den Bergen wohnt. Sie ist die Eine, die Kraft des gesamten Landes und zugleich mächtiges Schöpferwesen aus aller Anfangszeit. Sie hat die Landschaft gestaltet – lange bevor die Menschen sie aufsuchten. Und sie tut es immer noch.
Die Menschen fürchten sich vor ihrer wilden, unbändigen Art: wenn sie sich in ihrem grenzenlosen Überfluss zeigt und die Rhone und ihre Zuflüsse nach Regenfällen bedrohlich anschwellen lässt. Auch dann, wenn die Drachenschlange in den Bergen rumort und Kräfte ordnet – was oft einen Felsabsturz, einen Murgang oder eine Gerölllawine zur Folge hat.
So soll im Baltschiedertal in alten Zeiten ein Drache gehaust haben, der Menschen, Tiere und Wasserleitungen verschlang. Auch in Naters ist eine Natter bekannt, die mit ihrem giftigen Atem alles verwüstete, im Hochwasser des Rottens sich ausdehnte und mitriss, was die Menschen erbaut und gepflanzt hatten. Auf den Alpen hausten Riesenschlangen, Lindwürmer, die so gross waren, dass sie sich dreimal um einen Stadel winden konnten.
Solche Ungeheuer sind mit allen Elementen vertraut. Sie schwimmen, kriechen und können Feuer speien. Sie fliegen funkensprühend von einem Berg zum anderen, nisten sich in Felsen ein, saugen das Gold aus den Bergen, unterwühlen und zernagen sie, sodass ganze Hänge zu Tale stürzen. So wird es in vielen Sagen beschrieben.
Im Unterwallis ist der Name der Unbändigen noch bekannt: Vouivra wird sie genannt. In ihrer zerstörerischen Kraft zeigt sie sich als furchterregende geflügelte Schlange, die in allen Gestalten und Farben vorkommen soll. Ihre Länge betrage mehrere Klafter, und in ihrem Katzen- oder Vogelkopf sollen sich kostbare Edelsteine befinden. Manchmal trägt sie einen Karfunkelstein als Auge, und auch mit einer Krone wurde sie schon gesichtet. Doch dann kann es vorkommen, dass sie plötzlich als wunderschöne, strahlende Frau erscheint.
Im Laufe der Zeit lernte die Bevölkerung, die Vouivra nicht nur zu fürchten, sondern mit ihr zusammenzuarbeiten – das war wichtig in einem Land, in dem das Wasser ein besonders kostbares Gut ist. Man scheute keine Mühe, es von den Gletschern auf die Wiesen und Äcker zu leiten, um Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen zu schaffen. Wo man die Vouivra sorgsam miteinbezog, wirkte sie segensreich. Wo man ihr jedoch keinen Respekt zollte, zerstörte sie alles, womit man sie einzudämmen suchte. Und manchmal, damit mussten die Menschen leben, lockte sie einen Mann in die Tiefe ihrer Schlucht, junge Bauern mochte sie am liebsten.
Es scheint, als ob auch die Vouivra im Verlauf der Erdgeschichte einen persönlichen Umgang mit den Menschen erlernt hat. Sie fand Gefallen an ihrer Aufgabe als Lebensspenderin und Beschützerin. Manchmal zeigte sie sich auch in menschlicher Gestalt, als Weisse Frau, die ein Kind vor dem Ertrinkungstod rettet, oder als eine, die mit ihrem Stab einen Murgang am Dorf vorbeilenkt.
Am Genfersee konnte man die wilde Vouivra des Rhonetals besonders lieblich erleben. In gewissen Nächten sah man früher ein Schiff, das weiss leuchtete, wie die Sichel des silbernen Mondes. Von acht Schwänen wurde es gezogen. Sanft glitt es durch die Wellen. Im Schiff stand eine anmutige Frau, die weiss gekleidet war. Geflügelte Kindergestalten umgaukelten sie während der Fahrt. Das sonderbare Schiff stiess nie an die Ufer. Doch an den Orten, denen es sich deutlich näherte, waren die Fluren im darauffolgenden Sommer fruchtbar wie nirgends sonst. Alles blühte in wundervoller Pracht. Und den Menschen, die es sahen, war der im Herzen gehegte Wunsch schon kurz darauf erfüllt.
Doch nichts bleibt, wie es ist. Im ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens verschlingt und gebiert die Vouivra Landschaften und Geschöpfe. Auch heute sind ihre Drachenkräfte wach, die Erde wandelt sich. Vielleicht müssen wir uns neue Bilder von den Drachenenergien, von den Wandlungskräften unseres Planeten machen. Und vieles hängt für uns Menschen davon ab, ob es gelingt, uns wieder mit der alten Drachenschlange einzulassen, mit ihr in einen Dialog zu kommen und zu erspüren, was das für unser Leben bedeutet – für unser Tun und für unser Lassen.
Nach Anderegg 1979, S. 159; Giersberg 2015, Nr. 11; Guntern 1979, Nr. 111, 117, 352, 858, 1743–1755, 1766; Guntern 1965, Nr. 245 und Jegerlehner 1909, S. 100, 161
Erzählungen