der römischen Mythologie Diana kennen oder aus der griechischen Artemis. Diese Göttinnen sind zutiefst mit den wilden, natürlichen Kräften verbunden, sie streifen auch mit Pfeil und Bogen durch die Wälder und bringen ausgewählten Tieren den Tod. In ihrer Doppelfunktion als Jägerin und Behüterin der Tiere zeigt sich, dass die Ahnfrau für alle sorgt: für die Population der Tiere und die Menschen mit ihrem Bedürfnis nach Nahrung.
Eine weitere Sage zur Ahnfrau als Herrin der Tiere:
Die weisse Gämse
Walsersage
Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein war man sich im Wallis einig darüber, dass weisse Gämsen nicht geschossen werden dürfen. Man wusste, dass sie keine gewöhnlichen Tiere waren, und sah in ihnen Arme Seelen, die in Tiergestalt für ihre Vergehen büssen mussten. Natürlich gab es immer Jäger, die das besondere Tier holen wollten, koste es, was es wolle. Doch kaum einer, der es wagte, kam gesund von seinem Abenteuer zurück. Die weisse Gämse verführte viele, ihr auf den gefährlichsten Felspfaden zu folgen, und von dort aus stürzte mancher in den Abgrund, wo er zerschmettert liegen blieb.
In Ager, einer heute nicht mehr existierenden Walsersiedlung im Ossolatal, kannte man noch eine andere Geschichte: An einem Abend im Spätherbst stiegen zwei Jäger auf die Alp, wo sie sich in einer Höhle zum Übernachten einrichteten. Schon früh wollten sie am nächsten Morgen aufbrechen, um in die Schussweite der Gämsen zu gelangen, die sich in der aufgehenden Sonne die taufrischen Gräser schmecken liessen. Doch als sie am Morgen aufstanden, stand vor der Hütte ein Meter Schnee, und es hörte nicht auf zu schneien. Es war unmöglich, hinunter ins Tal zu gelangen, und so beschlossen die beiden Jäger, zu warten, während weiterhin grosse Flocken vom Himmel fielen. Als die wenigen Lebensmittel aufgebraucht waren und der sichere Tod sie erwartete, beschlossen sie, das Los bestimmen zu lassen, welcher von beiden überleben solle, damit er sich vom Fleisch des anderen ernähren könne. Doch völlig unerwartet – sie waren gerade dabei, auszulosen – sprang eine weisse Gämse in die Höhle. Ein Wunder! Sie hatten jetzt genügend Nahrung, und als das Wetter wieder besser wurde, kehrten sie nach Hause zurück.
Nach Waibel 2010, S. 94 und Guntern 1979, Nr. 462, 1738, 1739
Die Ahnfrau zeigte sich ihrem Volk in verschiedener Gestalt. Mal tritt sie als junge Frau auf, mal als füllige Matrone, dann auch als dunkle Alte. Sie spielt gern mit ihrer Form, und kaum glaubt man, ihre Gestalt erkannt zu haben, hat sie sich erneut verwandelt. Als Nebelfetzen zeigt sie sich, als Felsbrocken, als Busch, Baum oder auch als Tier: Schlange, Kuh oder weisse Gämse. Letztere weist auf ihre Doppelfunktion als Herrin der Tiere hin: Sie mahnt die Menschen, die Tiere zu schützen, doch wenn Not herrscht, gibt sie sich selbst in ihrer Tiergestalt als Nahrung hin, damit das Leben weitergehen kann.
In den Walliser Sagensammlungen wird die weisse Gämse nur noch als büssende Arme Seele verstanden. In den Walsersagen hingegen ist die wohl ältere Bedeutung der Gämse als nährenden Ahnfrau noch erhalten.
Als Walser gelten die Nachfahren jener deutschsprachigen Menschen, die im 12. und 13. Jahrhundert aus dem Wallis zunächst in benachbarte Gebiete und dann in den ganzen Alpenbogen von Tirol bis Savoyen ausgewandert sind. Ihnen wird die Besiedlung von 150 Ortschaften zugeschrieben.14 In die neue Heimat nahmen die Ausgewanderten nicht nur ihr Wissen um die Techniken der Alp- und Viehwirtschaft mit, sondern ebenfalls ihr Brauchtum, ihre Sprache und auch Sagen und Geschichten wie die der weissen Gämse oder der Alpmuetter (siehe S. 226).
Eine weitere Sage zur Ahnfrau als Herrin der Tiere:
Die Gämsmutter beim Langgletscher, Seite 41
Die Bergmutter und ihr Hornkind
Zermatt
Wohl schon vor Tausenden von Jahren, als die ersten Wildbeuter und Hirtinnen vom Süden her in die alpine Gegend des heutigen Zermatt kamen, wird das markante, freistehende Matterhorn auf sie einen ganz besonderen Eindruck gemacht haben. In ihrer magisch-mythischen Sehweise nahmen sie wahr, was wir heute kaum noch auf diese Weise verstehen können: die heilige Landschaft und mittendrin die Bergmutter – sichtbar geworden in ihrer wundersamen Fels- und Eisgestalt voller Schönheit und Magie.
Ihr Anblick ist atemberaubend. Fest steht sie da, die Berggöttin, verankert im Talkessel, und ihr Wirkungsbereich erstreckt sich weit in den Himmel hinein. Am Morgen empfängt ihr Haupt die Strahlen der Sonne und glüht rot auf. Und es scheint, als ob sie ihre Bergzacken wie Arme verlangend ausstreckt, um das Licht zu begrüssen, es in orangen, goldenen, gelben und weissen Tönen an ihrem hohen Leib hinunter und ins ganze Tal fliessen zu lassen. Abends, wenn die Sonne untergeht, lässt sie sich noch einmal von ihr küssen, um dann in einem Meer von Farben zu baden, bis die ersten Sterne ihr Haupt umkränzen und sie nun auch die gesammelte Kraft der Gestirne ins Land gleiten lässt. Und wenn der volle Mond im Osten aufkommt, streckt sie ihre Arme ebenso dem silbernen Licht entgegen.
Und mit ihr tut dasselbe das Hörnli, das kleine Horn – ein Bergkind, das neben ihr auf dem waagrechten Felspodest sitzt. Es zeigt in kindlicher, kurzer Form eine ähnliche Gestalt wie seine Mutter, und ebenso wie diese streckt es sich dem aufgehenden Licht zu.
Die frühen Menschen erkannten die Bergmutter noch in einer weiteren Erscheinung. Wenn sommers der Schnee auf ihrer Ostseite dünn ist, kann man in der Mitte ihres Oberkörpers, zwischen den ausgebreiteten Armen, kleine Brüste sehen. Es sind drei an der Zahl, für eine Göttin nicht ungewöhnlich – umso grösser ist ihre Macht und Kraft, im Tal einen Paradiesgarten zu schaffen. Und die Menschen wussten denn auch während eines langen, goldenen Zeitalters die Gaben der Bergmutter zu schätzen und ihre Gesetze zu befolgen. Noch immer sind Kultplätze bekannt, wo man sie verehrt und ihre umsorgende Kraft gewürdigt hat.
Die Mütterlichkeit der Berggöttin umfasste nicht nur die Welt der Lebenden. Auch die Seelen der Verstorbenen waren bei ihr gut aufgehoben. Sie gingen ein in ihren Schoss unter dem Eismantel, der von ihren ausladenden Hüften herabfliesst. Dort wohnten die Seelen, bis die Bergmutter sie mit der Gletschermilch wieder ins irdische Leben entliess. So erfuhren es die Menschen der frühen Zeit, und das Hörnli war Garant für dieses Geschehen. Die künftigen Menschenmütter konnten die Seelen ihrer Kinder am Schwarzsee abholen. Auch heute gehen Frauen mit Kinderwunsch dorthin, zur «Maria zum Schnee», zur Bergmutter, die nun in einer Kapelle verehrt wird.
Immer noch ist der Anblick des Matterhorns atemberaubend, obwohl der Berg heute kaum als Göttin wahrgenommen wird. Aus aller Welt pilgern Menschen millionenfach hierher, vielleicht auch, um dieser Landschaftsahnin unwissentlich und unbewusst zu huldigen – so stark ist ihre Anziehungskraft.
Nach Göttner-Abendroth 2016, S. 323
Die Menschen der frühen, vorgeschichtlichen Zeit erfuhren gewisse Erhebungen und Berge als Orte der Urmutter, gar als eine Landschaftsahnin: eine irdische und himmlische Macht und zugleich Gebieterin der Unterwelt. So gilt wie viele andere Berge auch der Mount Everest als Berggöttin. Die Himalaya-Völker nennen sie Chomolungma, was «Mutter des Universums» bedeutet; sie verehren sie als «Weisse Himmelsgöttin», als «Weisse Gletscherherrin».15 In ihrem Buch «Berggöttinnen der Alpen» erschliesst uns Heide Göttner-Abendroth diese Sicht für das Matterhorn.16 Die manifestierte Gestalt der Bergmutter Matterhorn kann man am besten vom Gornergrat aus wahrnehmen. Sie ähnelt den stilisierten Göttinnenfiguren aus der Steinzeit, wie sie zu Tausenden in Alteuropa gefunden wurden: dreieckiger Kopf, verkürzte Arme, breite Hüften, mit oder ohne Beine.
Archäologische Funde belegen, dass sich in dieser Bergregion seit Jahrtausenden Menschen aufgehalten haben: als Wildbeutergruppen, als Hirten, als Reisende.17 Sie kamen von Norditalien her, wo in der Jungsteinzeit sesshafte matriarchale Kulturen blühten. Nach und nach wurde die Route in die Zermatter Bergregion zu einem festen Weg weiterentwickelt.