nun das wundervolle Singen. Von da an vernahmen die Reckinger die geheimnisvollen Melodien jeden Tag beim Ave-Läuten.
Der Holzschnitzer aber wollte wissen, woher das Singen komme, und so stieg er immer wieder zum Hohbachwald hinauf, so lange, bis er endlich eine Riesentanne gefunden hatte, aus der die wunderbaren Klänge kamen. Er teilte es den Talgenossen mit, die ebenfalls die singende Tanne aufsuchten und bestaunten.
Doch der Holzschnitzer war damit nicht zufrieden. Die singende Tanne liess ihm keine Ruhe. Und eines Tages wurde sie auf sein Verlangen hin gefällt und zu Tal befördert.
Da wählte er das schönste astlose Stück des gewaltigen Baumes aus und wollte aus diesem Holz das Bild der Jungfrau Maria schnitzen. Nun arbeitete er Tag und Nacht an diesem Werk. Seine Aufmerksamkeit galt nur noch der immer deutlicher und schöner aus dem Holzstück herauswachsenden Gestalt. Und nach Jahr und Tag war ihm das Werk meisterlich gelungen. Wer immer das Bild in seiner Werkstatt sah, der sagte, dass seiner Jungfrau an himmlischer Anmut und seelischer Hoheit weit und breit kein Marienbildnis gleichkomme.
Jetzt war der Holzschnitzer zufrieden. Er schenkte das Bildnis der Kirche zu Reckingen. In feierlicher Prozession trug man die herrliche Holzstatue in die Kirche. Wie sie aber auf den Altar gestellt wurde, siehe, da öffnete mit einem Male das anmutsvolle Marienbild den Mund, und noch einmal hörten die Leute die wundersamen, lang vermissten Gesänge, die früher aus der Riesentanne vom Bergwald herabgekommen waren. Sie fielen auf die Knie nieder und priesen die Güte und Milde der Jungfrau Maria unter Freudentränen.
Nach Lienert 1915
In alten Zeiten liess sich die Ahnfrau einer Gegend bisweilen in einem mächtigen Baum nieder oder sie zeigte sich den Menschen in ihrer Baumgestalt.
Das Wissen um die Macht der Bäume ist fest in unserem Kulturgut verankert. In der germanischen Mythologie verkörpert die Esche Yggdrasil gar den gesamten Kosmos. Die alten Völker verehrten die Bäume, weil sie Nahrung, Wärme, Schutz und Material für Werkzeuge lieferten. Besondere, meist einzeln stehende Bäume waren so heilig, dass sie weder gefällt noch ihrer Zweige beraubt werden durften. Sie waren Wohnstätte von göttlichen Wesen oder von den Ahnen, die von hier aus Segen und Fruchtbarkeit übers Land brachten und den Menschen mit Rat zur Seite standen.
Bäume spendeten nicht nur Schatten, sondern auch Leben: Junge Frauen umarmten die Bäume und verhalfen so einer Ahnenseele, die sich im Baum niedergelassen hatte, wieder ins irdische Dasein. Ein Beispiel ist der auf Seite 39 erwähnte Kindlibaum (Kinderherkunftsbaum) bei Kippel im Lötschental. Rabiate Missionare des frühen Mittelalters liessen viele solcher heiligen Bäume fällen. Doch im Verborgenen wurde der uralte Baumkult noch lange weiter gepflegt, auch wenn in der Vorstellung der bekehrten Heiden die Grosse Ahnfrau oder die Ahnen, die im Baum wohnten, zu Armen Seelen wurden, die hier gefangen waren und für ihre Sünden büssen mussten.
Und manchmal wurde ein Ahnbaum mit einem Marienbild geschmückt. Maria sollte die Grosse Ahnfrau, die sich hier in ihrer Baumgestalt zeigte, ersetzen, und der Baum konnte weiter bestehen. Die singende Tanne von Reckingen jedoch wurde gefällt und aus ihrem Holz eine Marienstatue geschnitzt. Bildhafter kann man die Christianisierung des Ahninnenkults wohl nicht darstellen.
Das Tal der Gräfin Anna
Binntal
Vor vielen hundert Jahren wurde auch im oberen Rhonetal die Grosse Ahnfrau verehrt. Aus ihr kam alles Lebendige, sie nährte und beschützte es, und zu ihr kehrte es zurück. Das Volk erlebte sie an den Quellen, Bächen und Gletschern, in den Höhlen und Schluchten, in Felsbrocken, Hügeln und Bergen.
Im Goms wurde die Ahnfrau Gräfin Anna genannt. Ihr gehörten die schönsten Alpen von Ernen, Grengiols, dem Binn- und dem Lengtal. Diese sollen so fruchtbar gewesen sein, dass man die Kühe dreimal am Tag melken musste, und das Gras stand so hoch, dass ganze Büschel an den Spitzen zusammengeknüpft werden konnten, um auf den Wiesen Fussschlingen zu binden und einander zu necken. Ein tanzfreudiges Volk soll auf diesen Alpen gelebt haben – und keine Verordnung und keine Predigt konnte es von seinem lustvollen Tun abbringen. Auch Gräfin Anna liebte es, als Sennerin auf ihren Alpen zu verweilen, und wer ihr begegnete, kam verwandelt zurück.
So erging es auch Christine, einer Frau aus Schmidigehischere. Sie war eine der stärksten Käseträgerinnen im Binntal und fürchtete sich nicht davor, auch in den entlegensten Hütten Vergessenes zu holen oder schweren Ballast an den Ort zu schleppen, wo er benötigt wurde.
So war sie eines Tages spät im Herbst noch unterwegs im hinteren Binntal. An dem Ort, der Wyssbach heisst, dort, wo die junge Binna mit dem Turbewasser zusammenfliesst, setzte sich Christine auf eine Steinplatte, um ein wenig zu rasten. Sie beobachtete die Erdgeistlein in den weissen Sandhügeln und die lustigen Wasserwesen im milchig-weissen Bach, wie sie sich vor Freude über die Steine kugelten.
Da kam plötzlich eine Frau in alter Tracht daher und wies Christine an, ihr zu folgen. Sie stand auf und die beiden stiegen, ohne ein Wort zu wechseln, eilig die Kehren durch den weissen Sand hinauf, Richtung Albrunpass.
Auf einem Moränenhügel machte die geheimnisvolle Frau halt. Christine kannte den gewaltigen Felsbrocken, der hier vor langer Zeit zum Stillstand gekommen war. Eine Reihe von Bohrlöchern ziert seine Nordflanke, und auch der Stein, welcher den Felsbrocken stützt, weist kleine Schalen auf. Christine erinnerte sich an die Warnung des Pfarrers, sich von diesem Stein fernzuhalten.
Doch genau hierhin sollte sie sich setzen, so wies die seltsame Frau sie an und verschwand. Kaum hatte Christine sich in einer Ausbuchtung des Felsens niedergelassen, versank sie in einen wohligen Zustand völliger Leere. Die Nacht brach ein – Christine spürte weder die Kälte, noch machte sie sich Gedanken über ihr Fortbleiben von zu Hause. Sie fühlte sich behütet, und der mächtige Felsbrocken war wie ein Schiff, das sie sicher durch das Sternenmeer steuerte. Ein sanfter Sichelmond wachte über ihr.
Noch vor Sonnenaufgang stand Christine auf und blickte gegen Osten zum Ofenhorn. Es ragt wie mit zwei gewaltigen Brüsten zum Himmel. Weiss stürzen die Milchbäche von der Höhe herunter, sammeln sich in einem feuchten, sumpfigen Bauchkessel und schäumen dann zwischen gewaltigen Felsschenkeln hinunter ins Tal. Da lag sie: Gräfin Anna – die Bergmutter des Tals.
Eine wundersame Melodie schwoll an. Sie schien von weiter oben zu kommen, vom Ochsenfeld, einer baumlosen, verwilderten Trümmerwüste. Christine folgte dem Klang, und plötzlich waren da noch andere Frauen, alle in wunderschönen, alten Trachten. Sie tanzten zwischen den Felsblöcken und Steinen umher. Mit einem Bergkristall, den jede bei sich trug, klopften sie an das Gestein, weckten Töne und Melodien, die hier verborgen lagen. Und die Steine sangen ihre Lieder: von Sonne, Mond und Sternen, von Erde, Feuer, Wasser und Luft, von Entstehen und Vergehen, von Erstarrung und Verwandlung.
Inmitten dieses Klangteppichs erstrahlte der mächtige Felsbrocken auf dem Moränenhügel in einem ganz besonderen Glanz. In Farbkaskaden sichtbar, schien er die Kraft der Töne zu sammeln und sie gebündelt weit über Berge und Täler zu schicken. Die Alpen des Binntals erglühten, die Sonne ging auf. Und Christine war, als ob sie die Sprache der Steine, Kristalle und auch der Kräuter und Blumen verstünde.
Viel später, als die Sonne wieder am selben Ort unterging wie bei ihrer Ankunft, wusste Christine, dass ihre Zeit beim grossen Stein abgelaufen war. Am Morgen nahm sie freudig den Rückweg nach Schmidigehischere unter die Füsse. Doch als sie im Dorf ankam, sahen die Menschen sie erschrocken an. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit Christine aufgebrochen war, und man hatte nicht mehr damit gerechnet, sie nochmals zu sehen. Christine versuchte zu erzählen, was sie erlebt hatte. Doch niemand wollte ihrer Geschichte Glauben schenken. Man fürchtete sich vor ihr, und die meisten Leute mieden sie. Sie war eine andere geworden und als Lastenträgerin nicht mehr zu gebrauchen.
Noch ein Jahr ging ins Tal und die Dorfbewohner konnten sich nicht länger der Tatsache verschliessen, dass die seltsame Christine den Menschen und Tieren mit Kräutern helfen konnte, auch mit Kristallen oder mit Tönen. Wer Rat bei ihr suchte, dem weitete sich der Blick, und das Vertrauen in die Hilfe unsichtbarer Kräfte wuchs.
Auch