des Matterhorns vorbei über den Col d’Hérens ins Val d’Hérens und dann ins Rhonetal. Hier gab es schon im 6. Jahrtausend v. Chr. bäuerliche Siedlungen. In der Mittelsteinzeit, also etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, entwickelte sich bei der heutigen Stadt Sitten eine der bedeutendsten Grab- und Sakralstätte Alteuropas.18
Sagen berichten von einem goldenen Zeitalter: Wiesen, Fruchtbäume und Wälder wuchsen bis weit oberhalb der heutigen Waldgrenze, und ganze Herden von Gämsen, Steinböcken, Hirschen bevölkerten die hochalpinen Gebiete. Die Passübergänge waren eisfrei, und die Route vom Aostatal über Zermatt bis ins Rhonetal soll an saftigen Weiden, an Dörfern und Städten vorbeigeführt haben.19 Das goldene Zeitalter, das zeitlich nicht genau verortet werden kann, ging jäh zu Ende, als sich erneut eine Kältephase einstellte, Alpen vereisten, die Gletscher zu wachsen anfingen und Dörfer bedrohten. Belegt ist eine solche Periode relativ kühlen Klimas, die sogenannte Kleine Eiszeit, von Anfang des 15. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein. Sie führte zu schlechten Ernten, Hungersnöten, Seuchen und sozialen Spannungen. Es gibt im ganzen Alpenraum eine Fülle von Sagen, die sich auf diese Klimaveränderungen beziehen.
Bei Zermatt, oberhalb des Weilers Zmutt, sind noch heute zwei grosse Steinplatten mit vielen Schalen und Ritzungen zu sehen, die zum Teil aus uralter Zeit stammen und wohl auch auf eine kultische Verwendung schliessen lassen.20 An den vermutlich vorgeschichtlichen Kultstätten von Blatten, Furi, Findeln und Schwarzsee stehen heute Marienkapellen, die durch ihre Atmosphäre und besondere Mariendarstellung immer noch auf die Berggöttin hinweisen.21
Die Hohbachspinnerin
Goms
Noch im letzten Jahrhundert berichteten die alten Leute im Goms oft von der Hohbachspinnerin. Sie soll auf der Hohbachalp südlich von Reckingen gewohnt haben und war ein gar seltsames Wesen, selbst die Alpknechte fürchteten sich vor ihr; niemand wollte mehr mit den Tieren dort hinaufgehen.
Wie man erzählte, soll die Hohbachspinnerin ein furchtbarer Anblick gewesen sein: ein grimmiges, altes Weib, nur noch Haut über Knochen, mit langen Zähnen, und auf ihrer Schulter sass eine schwarze Katze mit feurigen Augen. Ganz unerwartet sei die Frau plötzlich vor einem aus dem Boden gewachsen – vor allem dann, wenn man lieber versteckt hielt, was man gerade vorhatte.
Immer, wenn man die Alte traf, war sie an der Arbeit mit einer Handspindel. In ihrem Zuhause soll sie ein weiteres, ganz besonderes Spinnrad besessen haben. Die Fäden, die sie damit spann, schienen einen erheblichen Einfluss auf das Schicksal der Menschen im Tal zu haben. So jedenfalls erzählten es die Alten. Doch wie sehr man die Spinnerin auch fürchtete, die Hohbacherin tat eigentlich niemandem etwas zuleide. Sie strafte auch die ungehorsamen Kinder nicht, denen man oft mit ihr drohte. Gern erschreckte sie jedoch faule Spinnerinnen oder solche, die über dem Dorfklatsch das Arbeiten vergassen. Oder sie tadelte mitunter Frauen, welche die Spinnzeiten nicht einhielten und noch nachts und während der Festzeiten nicht aufhören konnten, die Wirtel zu drehen oder das Rad zu treten. Manchmal kam es vor, dass ein Mädchen für einige Zeit aus dem Dorf verschwand und es sich später herausstellte, dass es bei der Hohbacherin gewesen war und dort spinnen und andere wichtige Dinge gelernt hatte.
Die Katze der Hohbachspinnerin aber war ein teuflisches Tier. Kaum trat eine Kuh in ihre Nähe, sprang sie diese an und biss sie in den Hals. Und meist war das betreffende Tier nach zwei Tagen tot. Es gab Sommer, da mussten einige Kühe auf diese Weise dran glauben. Kein Wunder also, dass niemand mehr mit den Tieren auf die Hohbachalp hochsteigen wollte.
Die feindliche Katze war auch im Tal unten gefürchtet, und die Leute wussten sich nicht mehr zu helfen. In ihrer Not baten sie einen frommen Kapuzinerpater um Hilfe. Dieser riet ihnen, vier Holzkreuze zu zimmern, sie vom Pfarrer segnen zu lassen und schliesslich auf der Alp einzugraben, an jeder Ecke eines. Zudem sollten in der Stalenkapelle vier Messen gelesen werden.
Natürlich vollzogen die Gommer, was ihnen vom Kapuziner aufgetragen worden war. Und siehe da – die bösartige Katze verschwand. Doch mit ihr auch die Hohbachspinnerin. Niemand hat sie seither je wieder gesehen.
Nach Guntern 1979, Nr. 1598
1885 wurde diese Sage im Jahrbuch des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) erwähnt. Sie schien eine der bekanntesten Erzählungen der Gegend zu sein, und die Walliserinnen sahen in der Hohbachspinnerin eine Arme Seele, die für ihre Sünden büssen musste. Der Autor des SAC-Beitrags entdeckte jedoch in der emsig spinnenden Frau mit ihrer Katze einen Anklang an den uralten Berchta-Hulda-Mythos.22
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Hohbachspinnerin verwandt ist mit der Berchta-Hulda (auch Bertha/Percht/ Holda/Hollermutter) oder eben mit Frau Holle, die wir aus dem gleichnamigen Märchen kennen. Um diese Gestalt mit den vielen Namen ranken sich zahlreiche weitere Mythen und viel Brauchtum in den Bergen Mitteleuropas. Dabei zeigt Holle neben ihren langen Zähnen mal ihren lieblichen, mal ihren garstigen Charakter.
Nach Ansicht der Sagenforschung geht die Gestalt der Holla bis in die Steinzeit zurück und bezeichnet niemand anderen als die Grosse Ahnfrau. Spätere, historisch überlieferte Indizien sprechen für die Annahme, dass Frau Holle die regionale Verkörperung einer uralten weiblichen Erd- und Himmelsgöttin ist, wie man sie überall auf der Welt unter den verschiedensten Namen verehrt hat. Holle/Hold/Hel, ihr Name im deutschen Sprachraum, beinhaltet das Verhüllte, Verhohlene, aber auch das Helle. Ihr weiterer Name Bercht/Berta/Percht bedeutet glänzend, leuchtend – wie die Gletscher und Schneefelder. Sie ist wild wie die Berge selbst und regiert über die Elemente, das Wetter und die Jahreszeiten.
In Bayern, Schwaben und Franken sowie im Tirol und Elsass wurde sie als Hausgöttin verehrt, die den Pflanzen, Tieren und Menschen Schutz und Heilung gibt. Die Holle hat den Menschen ausserdem zahlreiche Kulturtechniken wie das Spinnen und Weben gebracht – so glaubten es unsere Vorfahrinnen bis tief ins Mittelalter hinein.
Frau Holle lebt nach altem Volksglauben sowohl auf ihrem Berg als auch im unterirdischen Lichtreich. Die Menschen verehrten in ihr die Güte von Mutter Erde und das strahlende Himmelslicht zugleich. Sonnenschein fliesst von ihrem Haar, wenn sie es kämmt, die Welt ist von Nebel umhüllt, wenn sie Feuer macht und kocht, Wolken sind ihre Schafe, Regen fällt, wenn sie ihr Waschwasser auskippt, Schnee, wenn sie ihre Federbetten ausschüttelt. Frau Holles Himmelswagen wird von Katzen und Kühen gezogen. Mit diesem rast sie im Sturm durch die Lüfte und zerstört, was keine Kraft mehr hat.
Wie alle Muttergöttinnen ist die Holle zuständig für Leben und Tod. So kann sie verschiedene Gestalten annehmen. Mal ist sie jung und schön, ein andermal alt und hässlich. Sie beschenkt die Menschen, stellt sie auch auf die Probe, warnt oder droht. Sie ist nicht unversöhnlich und zeigt denjenigen ihre Huld, die ihren natürlichen Gesetzen folgen.
Die Kirche versuchte, die Holle/Percht zu verbieten. Noch in den Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts wurden die Angeschuldigten danach gefragt, ob sie Kontakt zu ihr hätten. Da die Ausrottung der alten Göttin nicht vollständig gelang, wurde sie zur heiligen Bertha umgetauft oder dämonisiert: Sie galt als Schreckgespenst, das die Unfolgsamen verfolgt; die Katze, ihr Begleittier, verwandelte sich in ein teuflisches Monster.
Bald wurde die Geschichte der Frau Holle, eines der ältesten Märchen überhaupt, nicht mehr im eigentlichen Sinn verstanden. Sie entwickelte sich zur erzieherischen Droherzählung und sollte wilde Mädchen zu braven und tüchtigen Hausfrauen machen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entdeckten Frauen die Holle wieder als Grosse Ahnfrau.
Die singende Tanne
Goms
In der Zeit, als es in der Schweiz noch besonders kunstreiche Holzschnitzer gab, lebte auch im Walliser Dorf Reckingen ein solcher, der sehr filigrane Sachen fertigen konnte.
Eines Tages, als er wieder in seiner Werkstätte sass und die Glocke von Reckingen das Ave durchs Tal läutete, hob er lauschend den Kopf, denn er glaubte, hoch oben, im Hohbachwald, ein wundersames Singen zu hören. Als das Läuten vorbei war, vernahm er jedoch nichts mehr. Er erzählte den Leuten im Dorf vom seltsamen Erlebnis. Als