»Na klar, ich wette, U-Bahnfahren macht heute keinen Spaß«, sagte ich, während ich zum Tresen wanderte.
»Gehst du auch heim?«
Ehrlich gesagt war ich versucht, Mike einen Besuch abzustatten und ihn zu fragen, was los war, aber das klang nicht nach meiner besten Idee. Vielleicht sollte ich ihn lieber anrufen, das würde einen weniger bedrohlichen Eindruck machen. Auch wenn er sich wie ein Arschloch verhielt und mich beschuldigte, bei ihm eingebrochen zu sein, so hatten wir doch ein paar Jahre eng zusammengearbeitet und ich wollte sichergehen, dass es ihm gutging. »Vermutlich.«
»Dann geh ich mit dir raus«, erwiderte Max und begann, die Kasse zu leeren und das Geld zu zählen.
Das Telefon des Ladens klingelte und ich hob den Hörer ab. »Snows Antiquarisches Imperium.«
»Ich bin’s.«
Neil. Ich riss mich zusammen. »Hey.«
»Bist du beschäftigt?«
»Wir schließen heute vorzeitig. Das Wetter wird immer schlimmer und Max muss mit der U-Bahn nach Brooklyn.«
»Ich mache jetzt Feierabend«, sagte er. »Ich komme bei dir vorbei.«
»Ich kann nach Hause laufen.«
Neil holte tief Luft. »Sebby, bitte streite nicht mit mir. Nur dieses eine Mal. Lass mich dich abholen.«
Wieso wurde ich wütend, nur weil er mich nach Hause fahren wollte, statt mich durch dieses scheußliche Wetter laufen zu lassen? »Okay, danke.«
»Soll ich etwas fürs Abendessen mitbringen?«
»Ich hatte vor, zu kochen«, antwortete ich zaghaft. Langsam war ich es leid, von Fast Food zu leben. Neil konnte überhaupt nicht kochen, was bedeutete, dass ich mich in die Küche stellen musste, wenn ich Lust auf Hausmannskost hatte.
»Das klingt toll«, meinte er erfreut. »Ich bin in spätestens zwanzig Minuten da.« Er legte auf.
»Neil holt mich ab. Du kannst schon mal gehen, ich kümmere mich um den Rest«, sagte ich zu Max.
Max lachte, als er mit dem Geldzählen fertig war. »Danke, Seb.«
»Ich ruf dich morgen an, falls wir wegen des Wetters geschlossen bleiben müssen.«
»Okay. Ich richte mich aber darauf ein, zu kommen, bis du mir etwas anderes sagst.« Innerhalb weniger Momente hatte er all seine Sachen eingepackt und verschwand durch die Tür im Schneesturm.
Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, sperrte ich ab und begann, meine Sachen zusammenzusuchen. Ich verstaute meinen Laptop in meiner Laptoptasche für den Fall, dass wir morgen den Laden geschlossen lassen mussten. Wenn ich schon daheim bleiben müsste, könnte ich wenigstens anfangen, die neue Ware, die ich noch zu Hause hatte, zu katalogisieren. Allerdings hatte ich das schon seit zwei Wochen vor und bisher noch nicht die Energie dafür gehabt. Als ich endlich die Lichter ausmachte, den Sicherheitsalarm anschaltete und in meine Winterkleidung schlüpfte, parkte Neil in seinen schwarzen BMW schon vor der Tür.
Das Auto war noch ein Streitgrund zwischen uns. Ich hatte keinen Führerschein, weil Menschen mit Achromatopsie besonders viele Tests absolvieren mussten, um ein Auto fahren zu dürfen. Darauf hatte ich schlicht und ergreifend keine Lust. Vor allem machte es in einer Stadt, die so ein großartiges öffentliches Verkehrsnetz bot, keinen Sinn. Trotzdem hatte ich mich mit Neil geeinigt, zusammen ein Auto zu kaufen und mich finanziell daran zu beteiligen, damit wir hin und wieder Urlaub außerhalb von New York machen konnten. Neil hatte einen teuren Geschmack. Er wollte einen Luxusschlitten und da gab es für ihn keinen Kompromiss. Das verstand ich einfach nicht. Wir hätten so viel Geld sparen können mit einem sinnvollen Gebrauchtwagen. Die Auseinandersetzung hatte damit geendet, dass ich mich geweigert hatte, Geld für ein solches Auto auszugeben. Das hatte er zwar akzeptiert, aber mir gleichzeitig gesagt, ich sollte mich verpissen. Natürlich hatte ich aus Trotz versucht, bisher jede Fahrt abzulehnen.
Im Auto war es warm, als ich die Beifahrertür öffnete und mich setzte. Die Scheibenwischer mussten hart arbeiten, um den schweren, klebrigen Schnee von der Scheibe zu entfernen. Neil hörte irgendwelche Weihnachtslieder und sah wieder mal cool und sexy aus. Ich musste zugeben, dass er wirklich gut hinter dem Lenkrad dieses Autos aussah.
Er lächelte. »Bereit?«
»Jepp.«
Neil fuhr los. Wir waren langsam auf den von Schnee bedeckten Straßen unterwegs.
»Du wirst morgen eingeschneit sein, wenn man dem Wetterbericht glauben kann«, raunte er mir zu.
»Musst du zur Arbeit?«
»Im öffentlichen Dienst gibt es kein schneefrei. Ist dir warm genug?«
Ich grummelte eine Antwort vor mich hin und war dann still. Wir wohnten in einem überfüllten Manhattaner Apartment, das eigentlich viel zu klein war für zwei Leute, aber dafür sehr nahe am Imperium lag. Normalerweise dauerte es nicht lange, um dort anzukommen, aber die Straßen waren komplett bedeckt. Das ein oder andere Auto vor uns war bereits ins Rutschen gekommen und Neil blieb Gott sei Dank lieber vorsichtig.
Bei der Gelegenheit studierte ich sein Profil und dasselbe hübsche Gesicht, das ich seit Jahren kannte. Er hatte mir gesagt, er hätte braune Augen. Seine Haare waren anscheinend hellbraun und Neil hatte sie mit einem Milchkaffee verglichen. Welche Farbe auch immer sie hatten, ich fand Neil schon immer attraktiv. Und er alterte wahnsinnig gut. Wenn ich ihn ansah, sah ich den Mann, in den ich mich verliebt hatte. Wieso stritten wir uns nur noch? Mein Vater sagte, es läge daran, dass es mich kirre machte, wieder einen Teil von mir verstecken zu müssen. Ich hatte mein Coming-out, aber wegen Neils Paranoia konnte ich trotzdem nicht frei leben. Jahrelang hatte ich das bestritten, aber langsam bekam ich das Gefühl, dass mein Dad vielleicht doch recht haben könnte. Neil war meine erste ernsthafte Beziehung und es hatte mich aus der Bahn geworfen, als ich herausgefunden hatte, dass er nicht geoutet war. Ehrlich gesagt warf es mich immer noch aus der Bahn.
»Tut mir leid«, sagte ich leise.
»Was tut dir leid?«
»Dass ich heute Morgen so unfreundlich war.« Ich starrte meine Hände an. »Wieso warst du eigentlich im Imperium?«
Er seufzte. »Ich habe zufällig gehört, dass Detectives zu der Adresse geschickt wurden, und gedacht, es sei etwas passiert. Ich habe gedacht, dir sei etwas passiert.«
»Danke, dass du dir Sorgen gemacht hast.« Ich lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Das klingt so komisch.«
»Ich weiß, was du meinst.« Er nahm kurz eine Hand vom Lenkrad, um mir liebevoll auf mein Knie zu klopfen.
Neil ließ mich an unserer Straße raus, um dann einen Parkplatz zu finden. Ich betrat das Gebäude und ging die drei Stockwerke zu unserer kleinen Wohnung nach oben über alte, knarzende Treppenstufen. Die Leitungen machten laute Geräusche, als die Boiler ansprangen. Ich hängte Mantel und Hut auf und verstaute meine Stiefel im Schrank. Dann ließ ich meine Tasche auf die Matratze unseres Doppelbetts fallen, bevor ich ein paar Lampen in der Wohnung anschaltete. Ich wusste, dass Neil es nicht mochte, in einer so dunklen Wohnung zu leben, aber er war höflich und arrangierte sich, ohne sich zu beschweren, damit ich meine Sonnenbrille hier drinnen nicht aufsetzen musste. Eine lange Zeit hatte ich versucht, mein Handicap vor ihm geheim zu halten. Das war aber zunehmend schwieriger geworden, als er angefangen hatte, Sachen zu fragen wie: Kannst du mir mein dunkelblaues Hemd geben? Oder beim Mexikaner: Reichst du mir die grüne Salsa? Es war schließlich herausgekommen, als er meinen zusammengeklappten Gehstock in meiner Tasche gefunden hatte, als er nach einem Kondom gesucht hatte. Ich musste kurz lachen, als ich den Kühlschrank öffnete und an den Moment zurückdachte. Die Stimmung war jedenfalls im Eimer gewesen und ich hatte geglaubt, er würde sofort mit mir Schluss machen. Beide Freunde, die ich vor ihm gehabt hatte, hatten mich wegen meines „Zustands“ verlassen. Es war nicht lebensbedrohlich, aber es war eine Last. Neil war bei mir geblieben und das war alles, was zählte.
Ich hörte ihn an der Tür, als er