C.S. Poe

Das Geheimnis von Nevermore


Скачать книгу

sagte William Snow in einem erfreuten Ton. »Das ist ein ganz schöner Schneesturm, was?«

      »Hey, Dad.«

      »Ich störe dich nicht, oder?«

      »Nein. Wie geht’s dir?«

      »Ganz gut, ich bin nur ein bisschen unruhig. Maggie und ich konnten heute nicht, wie üblich, spazieren gehen. Bleibst du heute daheim?«

      Nachdem ich gerade den Mund voll Cornflakes hatte, summte ich einfach als Antwort. »Es macht nicht viel Sinn, wenn ich den Laden aufmache bei dem Wetter, denke ich«, erklärte ich, als ich wieder sprechen konnte.

      »Ist Neil auch zu Hause?«

      »Nein, er musste zur Arbeit.« Mein Blick schweifte wieder zum Fernseher. »Steht bei dir heute irgendwas an?«

      »Nee«, antwortete er.

      »Kann ich vorbeikommen?«

      »Klar, aber soweit ich weiß, fahren keine Taxis.«

      »Das macht nichts.« Langsam stand ich auf und trug meine leere Schüssel in die Küche. »Ich werde mein Glück zu Fuß versuchen.«

      »Ist alles okay, Sebastian?«

      »Klar«, sagte ich, als ob ich es glauben würde, wenn ich es nur laut aussprach. »Wir sehen uns später.«

      Wir verabschiedeten uns und legten auf.

      Zurück im Schlafzimmer, wühlte ich mich durch einen Haufen Wäsche, die im Schrank von ihren Bügeln gerutscht war und sich am Boden gesammelt hatte. Ich schlüpfte in eine helle Jeans und streifte ein weißes, oder vielleicht doch eher graues, T-Shirt über. Im Badezimmer stellte ich mich vor den Spiegel und strich mir über wie Wangen, während ich überlegte, mich zu rasieren. Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass es den Aufwand nicht wert war. Stattdessen fuhr ich mir ein paarmal mit den Fingern durch meine Haare, wusch mein Gesicht und putzte meine Zähne. Ich sprühte mir Deo auf und zu guter Letzt setzte ich noch meine rot eingefärbten Kontaktlinsen ein. Meinem Dad nach veränderten die Linsen meine Augenfarbe von einem Haselnussbraun in ein sehr dunkles Braun. Sie schützten mich vor Licht, und das Beste war, dass ich meine Sonnenbrille mit Sehstärke problemlos darüber aufsetzen konnte.

      In dem Moment, als meine Stiefel in den tiefen Schnee einsanken, bereute ich meine Entscheidung, rauszugehen. Es schneite immer noch mit voller Wucht und die Stadt war so still, dass es fast unheimlich war. Ich traf nur wenige andere mutige Menschen, die sich ihren Weg durch den Schnee bahnten, während ich versuchte, so schnell wie möglich die Wohnung meines Vaters zu erreichen. Die Straßen waren leer, nur ein paar Fahrzeuge des Winterdienstes fuhren in der Nähe auf und ab. Fast alles hatte geschlossen. Die einzige Ausnahme schien ein alter Waschsalon und das Café daneben zu sein. Schnell kaufte ich ein paar frische Donuts, die hoffentlich als Ablenkung dienen würden, damit Dad mich nicht auf mein eher glanzloses Erscheinungsbild ansprach.

      Nach 25 Minuten stand ich endlich vor der Eingangstür zu Dads Gebäude. Normalerweise würde ich für den Weg nur 15 Minuten brauchen, aber normalerweise befanden wir uns auch nicht in einer Schneeapokalypse.

      Während ich darauf wartete, das vertraute Summen des Türöffners zu hören, versuchte ich, mir den Schnee von meinem Mantel und meinem Schal zu klopfen. In diesem Haus war ich aufgewachsen. Es handelte sich dabei um eines dieser Vorkriegsgebäude, das offensichtlich von einem Architekten gut durchgeplant worden war. Es hatte wahnsinnig viel Charme und war wunderschön. Dad hatte hier schon als Teenager gewohnt und war einer der wenigen Glücklichen, die eine preisgebundene Miete zahlten. Andernfalls wäre er sicherlich bereits gezwungen gewesen, seine Wohnung aufzugeben und in das Umland der Stadt zu ziehen. Vor allem jetzt, wo er gerade erst in Rente gegangen war.

      Das erwartete Summen erklang und die Tür wurde entriegelt. Ich hastete hinein und die Treppen hinauf, bevor ich an der Tür klopfte.

      »Es ist offen!«

      In dem Moment, als ich die Tür öffnete, wurde ich von einem riesigen Pitbull empfangen. Er hüpfte auf seinen Hinterbeinen und begann, mein Gesicht und die Sonnenbrille abzulecken. »Oh Maggie, komm schon, jedes Mal!«

      »Runter«, befahl mein Vater in einem strengen Ton. »Das machst du nur bei Sebastian«, schimpfte er mit seiner Prinzessin etwas sanfter. Natürlich eilte sie sofort an seine Seite und wackelte glücklich mit dem Schwanz.

      »Hey, Dad«, sagte ich, nachdem ich die Tür geschlossen und meine Winterbekleidung abgelegt hatte. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und versuchte, sie mit meinem T-Shirt von der Hundespucke zu befreien.

      »Ich hatte schon Angst, du seiest in dieser wilden, arktischen Tundra verloren gegangen«, bemerkte Dad mit einem leisen Lachen.

      »Fast«, antwortete ich, holte meine normale Brille aus meiner Jackentasche und platzierte die Schachtel mit Donuts auf dem Tisch. Als er dabei war, die Kaffeemaschine einzuschalten, erblickte er sie aus den Augenwinkeln. »Was ist das?«

      »Ich war kurz bei Little Earth.«

      »Die mag ich am liebsten.«

      »Weiß ich«, antwortete ich und holte eine kleine Tüte aus dem Inneren der Schachtel, in der sich zwei Hundekuchen befanden. Little Earth war ein lokaler Geheimtipp und bekannt für seine großartigen Donuts, aber auch Hunde kamen hier voll auf ihre Kosten, dank der selbst gemachten Leckerlis im Angebot. »Versprichst du mir, dass du nicht mehr an mir hochspringst?«, fragte ich Maggie.

      Ganz brav setzte sie sich vor mich hin und sah mich voll nervöser Aufregung an.

      Vorsichtig hielt ich ihr die Leckereien hin und sie schnappte sie mir beide zeitgleich aus der Hand. »Klar«, meinte ich. »Natürlich wirst du mich wieder anspringen.«

      »Bist du gerade erst aufgestanden?«, fragte Dad und sah mich mit einer unbeeindruckten Miene an.

      »Ich hab mir die Zähne geputzt«, erwiderte ich, lehnte mich gegen die Küchenzeile und sah mich um.

      Die Wohnung hatte sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Sie war groß und geräumig und wenn man reinkam, fand man auf seiner Rechten direkt eine schöne, gut ausgestattete Küche. Am Ende der Wohnung konnte man durch große Erkerfenster auf die Straße blicken und direkt davor stand ein kleiner Esstisch. In der Mitte der Wohnung war eine Couch, die von Bücherregalen umringt war. Die Regale platzten schon aus allen Nähten und direkt vor der Couch hatten Dad und ich vor ein paar Jahren ein ordentliches Entertainmentsystem installiert. Den Flur runter fand man das Badezimmer und mein altes Kinderzimmer, das jetzt als Büro diente. Allerdings benutzte Dad es so gut wie nie, seit er in den Ruhestand gegangen war. Sein Schlafzimmer war direkt hinter der Küche. Dad hatte alle Vorhänge zugezogen, was er immer tat, wenn ich ihn besuchen kam, und die Lampen leuchteten in ihrer schwächsten Einstellung.

      »Du hast deine Haare vergessen«, sagte Dad. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er anfing, meine wilderen Strähnen glatt zu streichen. »Und habe ich dir nicht beigebracht, wie man sich rasiert?«

      Ich lachte leise und fuhr mir über meine Stoppeln. »Ich hab heute unerwarteterweise frei.«

      Er grummelte vor sich hin, als er zwei Tassen und einen Teller für die Donuts aus dem Schrank holte. »Maggie hätte heute trainieren gehen sollen, aber die Tierheime haben alle zu.«

      »Ist wahrscheinlich besser so.«

      Dad war 63 Jahre alt und hatte vor seinem Ruhestand 30 Jahre lang amerikanische Literatur an der New York University unterrichtet. Er konnte mit der ganzen freien Zeit nicht umgehen und ich hatte ihm vorgeschlagen, einen Hund zu adoptieren, bevor er wahnsinnig werden würde. Hier kam seine kleine Prinzessin Maggie ins Spiel. Sie und Dad nutzten nun all ihre freie Zeit mit ehrenamtlicher Arbeit. Sie halfen Tierheimen dabei, gerettete Pitbulls in der Stadt zu rehabilitieren.

      Maggie rannte quer durch die Küche, hielt neben mir an und streckte mir das quietschende Spielzeug entgegen, das sie in ihrem Maul trug.

      »Neues Spielzeug?« Ich warf es sanft durch den Raum.

      »Es ist gut, manchmal ein neues Spielzeug zu haben«, antwortete mein Dad.